Bildungspolitische Illusionen/Jahrgangsklassen
FG Bildungspolitik - Bildungspolitische Illusionen |
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Jahrgangsklassen haben viele Vorteile.
Sie schaffen Ordnung und Überblick durch "Klassifikation" (vollständige Zerlegung einer Menge in paarweise disjunkte Teilmengen) und erlauben klare Zuständigkeiten.
Und da sie SchülerInnen einer Jahrgangsstufe zusammenfassen, liegen gleichartige Entwicklungsstände vor. Gleiche, altersgemäße Interessen und Bedürfnisse. Gleiche Grundvoraussetzungen, eine homogene Basis an Kenntnissen und Fertigkeiten. Wie in Lehrplänen definiert.
Das erlaubt ein perfektes Unterrichtskonzept. Da alle kraft Amtes gleich sind, kann man alle über einen Kamm scheren. Kann sie da "abholen", wo sie alle stehen (oder zu stehen hätten) und gemeinsam hinführen, wo sie in Zukunft stehen sollten.
Das funktioniert im Allgemeinen ja hervorragend. Zumindest für den lehrplangemäßen Ideal-Schüler.
Sollte ausnahmsweise mal ein Schüler nicht plangemäß sein, wurde er wahrscheinlich fehl-klassifiziert. Vielleicht ist er noch nicht reif genug und gehört eine Klasse zurückgestuft. Vielleicht passt er auch einfach nicht an diese Schule. Die Hauptschule würde ihm bestimmt besser liegen...
Noch schlimmer und nerviger sind "Überflieger". Neunmalkluge SchülerInnen, die irgendwie mehr wissen oder mehr wissen wollen, als es ihrer Klasse zukommt. Die kann man nicht so leicht abschieben. Aber oft findet man andere Wege, sie auf ein angemessenes Niveau zurechtzustutzen.
Jahrgangsklassen sind Normen und Maßstäbe. Ein komplexes Konstrukt von Erwartungen. Man kann sich gut die Frage stellen, ob SchülerInnen in ihre Klasse passen.
Ob die Klasse zu den SchülerInnen passt, interessiert bestenfalls die jeweiligen Eltern. Und das meist auch nur, wenn die Noten nicht mehr passen.
Nicht alle SchülerInnen wurden nach DIN-Norm hergestellt. Wahrscheinlich gar keine. Blöd. Vielleicht sollten wir die Gentechnologie forcieren, um SchülerInnen zu klonen, die sich dann wirklich lehrplangemäß entwickeln können.
Eine Alternative könnte sein, den Begriff "Bildung" als Chance zur individuellen Entfaltung ernst zu nehmen.
Aber dann wären SchülerInnen - jeder und jede einzelne von ihnen - eben wirklich Individuen. Mit eigenen Bedürfnissen, eigenen Neigungen, eigenen Stärken und eigenen Schwächen. Eigenen Ausgangspunkten und eigenen Zielen.
LehrerInnen müssten sich dann nicht mehr mit Klassen auseinandersetzen und schon gar nicht mehr mit der Lehrplan-Fiktion einer Norm-Klasse. Sondern mit realen Individuen, die nicht pauschal für Massenabfertigung taugen.
Peter Petersens "Jena-Plan" löst das Prinzip der Jahrgangsklasse durch jahrgangsübergreifende Gruppen ab. Überlicherweise werden drei Jahrgänge zusammengefasst. Jährlich steigt etwa ein Drittel der SchülerInnen weiter auf und wird durch Neulinge ersetzt. Entsprechend gibt es immer auch ältere in der Gruppe, die praktisch als "TutorInnen" Wissen weiter geben können - und damit ihr eigenes Verständnis der Lehrinhalte vertiefen. Und soziale Kompetenzen lernen. Nicht nur "LehrerInnen" können lehren.
In der "alten Dorfschule", die auch in Deutschland vor einigen Jahrzehnten noch existierte, waren oft weit mehr Jahrgänge in einer Klasse vereint. Auch hier war ein Standard-Frontal-Unterricht für alle von vornherein kein brauchbares Konzept. LehrerInnen mussten differenzieren. Und Ideen entwickeln.
Eine dieser Ideen war Helen Parkhursts "Dalton-Plan". Schule als Lernlandschaft. Einzelne Räume mit unterschiedlichen Lernangeboten. SchülerInnen als TutorInnen. Und die Chance für SchülerInnen, eigenständige Entscheidungen zu treffen und ihren Unterricht ihren jeweils eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten anzupassen.
(Der Dalton-Plan ist bei vielen LehrerInnen sehr unpopulär, weil er LehrerInnen aus ihrer üblichen Rolle drängt: Lernen scheint auch ohne LehrerInnen möglich. Und ja: Das ist so. Allerdings sollte man sich klar darüber sein, dass auch das Arrangieren einer intelligenten Lernlandschaft Arbeit bedeutet und erhebliche Kompetenzen erfordert. Außerdem Begleitung und kontinuierliche Weiterentwicklung.)
"Jena-Plan" UND "Dalton-Plan" - beide Konzepte haben ihre Stärken und Schwächen. Man sollte sie nicht gegeneinander ausspielen und keinesfalls ein Konzept zum Dogma erheben.
SchülerInnen sind nicht plangemäß. Und sollten es auch gar nicht sein.