Benutzer:TurBor/Begründung GG§38
Der Antrag wurde im Oktober 2011 in LiquidFeedback abgestimmt (Ergebnis: 460/46/190, 71% Zustimmung) sowie zum BPT in Offenbach und zum LPT Bayern 2012.1 eingereicht. Dies ist eine ausführliche Begründung dazu. Selbstverständlich kann die Diskussionsseite für weitere Diskussionen genutzt werden;)
Bevor wir uns inhaltlicher Debatten annehmen, muss die Frage geklärt werden, welchen Status die von uns gefassten Programmentscheidungen haben und was sie für die Arbeit von Piratenabgeordneten bedeuten – insbesondere jetzt, wo die realistische Chance besteht, in absehbarer Zeit in zahlreichen Parlamenten vertreten zu sein. Dabei offenbaren sich sowohl ideologische als auch praktische Konflikte, die uns intern wie nach außen hin enorm schaden können und deshalb einer Lösung bedürfen.
Auf der einen Seite steht nämlich das Bekenntnis der Piraten zu Freiheit und Individualität, unterstrichen durch das erfolgreiche Motto „Denk selbst!“. Bei Mandatsträgern ist diese Haltung zudem durch ein gewichtiges Argument, nämlich das Grundgesetz, gestützt - Art. 38(1) GG besagt nämlich, dass Abgeordnete an keine Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen verpflichtet sind. Auf der anderen Seite steht allerdings unsere Idee der Basisdemokratie und das Versprechen ehrlicher Politik, also soll dem Wähler vor der Wahl wahrheitsgetreu mitgeteilt werden, welche Positionen die Piraten nach der Wahl vertreten werden, und diese Positionen sollen von der Parteibasis stammen.
Die klassische Fraktionsdisziplin kommt für die Piraten wohl nicht in Frage (es war amüsant, die Überraschung der etablierten Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus zu beobachten, als die Piratenfraktion vorgelebt hat, dass es in der Tat ohne Fraktionszwang geht). Diese ließe sich – und es gibt durchaus Ansätze und Bestrebungen, die diese Richtung hin zu einem imperativen Mandast einschlagen – auf Basisdemokratie „trimmen“, indem statt Entscheidungen der Fraktionsmehrheit oder des Parteivorstandes basisdemokratische Entscheidungen (Urabstimmungen, Liquid Democracy, Parteitagsentscheidungen einschließlich Programmpunkten...) für verbindlich erklärt werden. Zwar gibt es dabei den kleinen Haken mit dem Grundgesetz, aber hey, die anderen Parteien schaffen es auch irgendwie, den zu umgehen...
Ein solches Vorgehen wäre denkbar, mein Antrag geht aber in die diametral entgegengesetzte Richtung, und zwar aus Gründen.
Ideologisch: Parlamentarische Zwänge - Nein danke!
Piraten sind frei, Piraten sind individuell, Piraten denken selbst. Ich möchte nicht von Abgeordneten „vertreten“ werden, die robotermäßig Beschlüsse anderer umsetzen, und nur Politiker im schlechten Sinne des Wortes können ihre Überzeugungen von einem Tag auf den anderen um 180° drehen, nur weil irgendwo ein neuer Beschluss der „Basis“ gefasst wurde. Eine eigene Meinung zu haben und diese auch in einer Minderheitsposition verteidigen zu können ist für mich eine Eigenschaft, die einen Menschen erst für ein Mandat für die Piratenpartei geeignet macht.
Theoretisch: Wie kann die Basismeinung abgebildet werden?
Nehmen wir an, eine aus 20 Abgeordneten bestehende Piratenfraktion will voll und ganz die Meinung der Parteibasis vertreten und führt eine Urabstimmung durch, die mit 60 zu 40 ausgeht. Wie soll die Fraktion jetzt abstimmen? Eine möglichst verzerrungsfreie Abbildung der Basismeinung würde bedeuten, dass 12 dafür und 8 dagegen stimmen müssten. Wie wird das Abstimmverhalten des Einzelnen dann festgelegt? Was ist, wenn über einen Programmpunkt nur bekannt ist, dass er über 2/3 kam? Was, wenn sich die Meinung (und/oder die Zusammensetzung) der Basis seit der Aufstellung des Programms geändert hat und ein aktuelles Meinungsbild ein anderes Ergebnis als das beschlossene Programm liefert?
Pragmatisch: Unvermeidbare Interessenskonflikte
Deutschland hat eine föderale Struktur, die sich auch im Bundeswahlrecht wiederspiegelt: zwar werden Programmbeschlüsse der Parteien auf Bundesebene gefasst, die Kandidatenlisten werden aber nach Landesverband aufgestellt. Nun dürfte es kein Geheimnis sein, dass es in der Piratenpartei in vielen politischen Bereichen starke regionale Differenzen und Inhomogenitäten gibt. Stößt ein bestimmter Programmpunkt auf wenig Gegenliebe bei der Basis in einem Landesverband, ist es überaus wahrscheinlich, dass auch die Landesliste aus Kandidaten bestehen wird, die gegen diesen Punkt sind; wird nun dieser Programmpunkt auf Bundesebene in das Wahlprogramm aufgenommen, stehen die gewählten Piraten vor einem unlösbaren Interessenskonflikt: welcher „Basis“ sind sie nun mehr verpflichtet – derjenigen, die das Programm beschlossen hat, oder derjenigen, die den Kandidaten auf die Liste wählte?..
Die angeführten Überlegungen sowie enorme Bauchschmerzen bei der Idee, das Grundgesetz „austricksen“ zu müssen, haben mich dazu bewogen, meinen sehr radikal formulierten Antrag zu stellen. Als positiven Nebeneffekt hoffe ich, dass dadurch die teilweise schon mit religiösem Eifer geführten Programmdebatten und Grabenkämpfe in der Partei entschärft werden, da dem Parteiprogramm der Nimbus der „Wahrheit in letzter nstanz“ genommen wird. Frei nach „Fluch der Karibik“: Das Parteiprogramm ist kein Gesetz, sondern eine Richtlinie;)
Anschließend will ich eine Liste mit den üblichen Contra-Argumenten und meinen Antworten einbringen – diese darf gerne auf der Diskussionsseite erweitert werden:)
Die Basisdemokratie bleibt auf der Strecke!
Zum einen ist es – wie oben beschrieben – in der Tat eine Abwägung, die zu Ungunsten der Basisdemokratie ausfällt, weil ich die Werte der Freiheit, Individualität und Meinungsvielfalt zusammengenommen höher ansiedele, als den Wert der reinen Basisdemokratie.
Zum anderen aber ist es dennoch durchaus basisdemokratisch, denn die Kandidaten werden von der Parteibasis aufgestellt und ich vertraue der Basis insoweit, dass keine Kandidaten mit 180° zum Parteiprogramm konträren Ansichten gewählt werden (es ist für mich selbstverständlich, dass ein Kandidat bei seiner Vorstellung zumindest zu Themen mit Konfliktpotential seine Positionen klar darlegt; diese Forderung ist explizit nochmal im letzten Absatz des Antrags gestellt). Teilweise wird dadurch das oben genannte Problem, wie denn die Basismeinung abzubilden ist, sogar gelöst: steht die Basis mit einer 70-zu-30 Mehrheit hinter einem Programmpunkt, ist zu erwarten, dass auch die Abgeordneten in der Frage ein ähnliches Verhältnis aufweisen werden (zumindest wenn es sich um regional ausgeprägte Unterschiede handelt).
Gegen das eigene Wahlprogramm zu stimmen ist Wählerbetrug!
Damit ein Programmpunkt ins Wahl- oder Grundsatzprogramm kommt, muss es eine 2/3-Mehrheit auf einem Parteitag bekommen – es wäre ein statistisches Wunder, wenn plötzlich eine Mehrheit der aufgestellten Kandidaten das Programm nicht unterstützt. Das Wahlprogramm gibt dem Wähler also weiterhin genug Orientierung, um zu erkennen, in welche Richtung wir segeln. Zudem demonstrieren die etablierten Parteien seit Jahren eindrucksvoll, dass Fraktionsdisziplin keinesfalls Wählerbetrug ausschließt – zur Not heißt es dann „parlamentarische Zwänge“...
Dennoch ist der Antrag bewusst auch als „Aussage gegenüber dem Wähler“ formuliert; somit geben wir ehrlich zu, dass unsere Werte es nicht zulassen, ein 100% geschlossenes Wahlverhalten unserer Abgeordneter zu erzwingen.
Wir können mit einer solchen Einstellung keine Koalitionen bilden!
Wohin das Streben nach Macht auf Kosten der eigenen Prinzipien führt kann man an den GrünInnen in den letzten 20 Jahren sehr gut beobachten.
Wir büßen an Einfluss gegenüber geschlossen auftretenden Fraktionen ein!
Siehe vorheriger Punkt.
Der Antrag ist überflüssig, das Grundgesetz reicht aus!
Die Hitzigkeit, mit der ich den Antrag verteidigen muss, zeigt, dass er keinesfalls überflüssig ist. Es gibt durchaus Möglichkeiten, das GG formell zu achten und dennoch Fraktionsdisziplin zu etablieren; der Antrag besagt letztendlich, dass wir diese Möglichkeiten ablehnen und von ihnen keinen Gebrauch machen werden.