Benutzer:BuMa/Bundestagswahlrecht

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Da das Thema Bundestagswahlrecht brandaktuell ist, kann man davon ausgehen, dass es mit ziemlicher Sicherheit auf dem kommenden Bundesparteitag in Offenbach behandelt werden wird. Zu diesem Thema stehen sich vier Anträge gegenüber, von denen drei am vergangenen Dienstag im Dicken Engel diskutiert worden sind. Neben mir haben Andi und Eberhard ebenfalls an der Diskussion teilgenommen, und wir haben die Vor- und Nachteile unserer jeweiligen Anträge herausgestellt.

Dies ist jetzt eine Replik auf einen Blogeintrag von Andi Popp, in dem er die Diskussion aus dem Dicken Engel fortführt. Zum Verständnis sollte man daher seinen Beitrag gelesen haben, ebenso wie die Anträge inkl. Begründungen:

Der Antragsteller von Q056 war im Dicken Engel nicht anwesend und konnte seinen Antrag nicht vorstellen. Er ist auch mehr eine Ansammlung von Stichpunkten, mit einem allgemeineren Ansatz als die anderen drei. Zu eigentlich jedem seiner Stichpunkte existieren eigene, ausformulierte Anträge. Deswegen gehe ich mal nicht weiter drauf ein.

Mein Antrag ist der Q037, und wie nicht anders zu erwarten, finde ich den am besten von allen. (Hätte mich bspw. während der Diskussion jemand vom Gegenteil überzeugt, hätte ich den Antrag zurückgezogen, statt diesen Text zu schreiben.)

Wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, sieht Andi weiterhin seinen eigenen Antrag als den besten an. Seine Art dafür zu argumentieren sagt mir allerdings nicht zu. U.a. hat er eine Gegenüberstellung der Anträge gemacht, wo er für einzelne Aspekte der Anträge Schulnoten verteilt. Am Ende liegt sein Antrag dann bei einem "Notenschnitt" von 1,2, und die beiden anderen Anträge landen abgeschlagen bei 4,6. U.a. bewertet er die bei ihm verwendete Methode "Vorzugsstimme", wo jeder Wähler genau einen einzigen Kandidaten ankreuzen kann, mit der Note 2, und das System "Kumulieren/Panaschieren", wo jeder Wähler mehrere Kreuze verteilen kann, völlig willkürlich mit der Note 5.

Kumulieren und Panaschieren

Generell merkt man Andi bei seiner Argumentation an, dass er aus Bayern kommt, und sich überwiegend mit bayerischen Wahlsystemen beschäftigt hat. Als Argument gegen Kumulieren und Panaschieren liefert er bspw. ein eher realitätsfernes Paradoxon, wo Leute angeblich unabhängig jeder Parteipräferenz Kandidaten nach Geschlecht oder Alter ankreuzen, und sich dann wundern, dass die Parteien, die sie wählen, mehr Sitze bekommen.

Begründen tut er dies mit seinen Erfahrungen bei bayerischen Kommunalwahlen, dass viele Leute angeblich eher nach Personen als nach Parteipräferenzen wählen, ihre Stimmen aber u.U. ganz anderen Kandidaten der gewählten Parteien zugute kommen. Das mag bei Kommunalwahlen noch üblich sein, dass man seinem Nachbarn ein paar Stimmen zuschanzt, obwohl er vielleicht in der "falschen" Partei ist, aber bei Landtags- oder gar Bundestagswahlen wird das zunehmend unwahrscheinlicher.

Eine Analyse der letzten Wahl zur Hamburger Bürgerschaft hat ergeben, dass über 85% der Wähler nur eine einzige Partei wählen, und die restlichen knapp 15% Panaschierer offensichtlich fast ausschließlich nach Koalitionen wählen. Laut einer Studie im Auftrag der Hamburgischen Bürgerschaft gaben weniger als 10% der Wähler bei einer Befragung an, die Parteizugehörigkeit hätte bei der Kandidatenwahl eine geringe oder gar keine Rolle gespielt, womit dieser Aspekt in der Wichtigkeit mit weitem Abstand vor Beruf, Stadtteil, akademischem Grad und Geschlecht rangierte. Andis Annahme, die Wähler würden beim Kumulieren und Panaschieren eher Personen wählen, und Parteipräferenzen erst an zweiter Stelle beachten, ist also nicht haltbar.

Andi begeht auch bei seiner Analyse von Kumulieren/Panaschieren einen schweren Fehler, und zwar nimmt er das sog. "süddeutsche" Verfahren als Ausgangspunkt seiner Überlegungen, das er aus eigener Erfahrung kennt, bei dem jeder so viele Kreuze machen darf, wie Kandidaten zu verteilen sind, aber maximal drei pro Person. Das kann in der Tat dazu führen, dass Wähler ihre Kreuzchen gerne auch mal an nette Kandidaten auf anderen Listen verteilen, denn jeder ist gezwungen, eine Menge verschiedener Kandidaten anzukreuzen, besonders in größeren Kommunen oft weitaus mehr, als er überhaupt namentlich kennt. Beim "norddeutschen" System dagegen, das in Eberhards und meinen Anträgen verwendet wird, hat jeder Wähler nur fünf Stimmen, und darf die verteilen oder auch alle auf denselben Kandidaten verwenden. Andis Beispiel mit dem Wähler, der nur Frauen wählen möchte, würde also aller Wahrscheinlichkeit nach so verlaufen, dass alle fünf Kreuze auf eine oder mehrere Frauen der bevorzugten Partei kumuliert würden, anstatt welche davon auf eine Frau einer anderen Partei abzugeben. Und damit tritt das Paradoxon nicht auf. Ein Wahlsystem kritisieren zu wollen, und sich dabei auf ein ganz anderes Wahlsystem zu beziehen, ist natürlich nicht ganz sauber. Wenn man's genauer betrachtet, ist die "norddeutsche" Variante des Kumulieren/Panaschierens sogar sowas wie ein Mittelweg zwischen den beiden in Bayern verwendeten Verfahren des "süddeutschen" Kumulieren/Panaschierens auf Kommunal- und der Vorzugsstimme auf Landesebene.

Ein sehr guter Mittelweg, wie ich finde, und der Vorzugsstimme überlegen in dem Sinne, dass dem Wähler mehr Wahlmöglichkeiten zustehen. Bspw. könnte man einen Teil seines Stimmgewichts auf einen bekannten Fachpolitiker verwenden, der sich für die eigenen, wichtigen Themen engagiert, und einen anderen Teil auf einen lokalen Politiker aus der eigenen Gegend. Beim Antrag PA014 ist das nicht möglich, man muss sich für genau einen Kandidaten entscheiden, den man gerne im Bundestag sehen möchte.

Wahlkreise

Damit man trotzdem auch lokale Politiker wählt, möchte Andi das Zweistimmensystem mit Wahlkreis- und Landeslistenstimme beibehalten. Auch hier erkennt man wieder, dass er in einem großen Flächenland wohnt. Lapidar erklärt er nebenbei, für seine Mehrmandate-Wahlkreise könne man einfach jeweils fünf Wahlkreise zusammenlegen. Er vergisst dabei, dass Länder wie Bremen oder das Saarland gar keine fünf Wahlkreise haben. Selbst wenn man davon ausgeht, dass nur jeweils 3–4 Wahlkreise zusammengelegt werden, kämen die Hälfte der Bundesländer auf jeweils maximal 3 Wahlkreise. Ein relevanter örtlicher Bezug, den Andi als Aufgabe der Wahlkreiskandidaten sieht, und der diese von den Landeslistenkandidaten unterscheidet, wäre da gar nicht mehr gegeben.

Auch befürchtet er, ohne Wahlkreise würden über die offenen Listen eher Stadtpolitiker gewählt werden, und die ländlichen Wahlkreise gingen leer aus. Dabei stellt sich allerdings die Frage, welche ländlichen Wahlkreise damit gemeint sind. Bei viermal so großen Wahlkreisen wie derzeit müsste man sich auch in Bayern, Baden-Württemberg oder Niedersachsen sicherlich gehörig anstrengen, um Wahlkreisgrenzen so zu legen, dass in einem Wahlkreis keine größere Stadt liegt. Und nach dieser Logik würden in diesen Wahlkreisen natürlich jeweils die Kandidaten gewählt werden, die in diesen Städten wohnen.

Mehrmandate-Wahlkreise sind also aus meiner Sicht bei Bundestagswahlen überflüssig, solange man die Landeslisten öffnet, so dass man einzelne Kandidaten wählen kann. Ich stimme aber mit Andi überein, dass der Antrag Q011, der zugunsten von Mehrmandate-Wahlkreisen ganz auf Landeslisten verzichtet, die schlechteste Alternative darstellt. Zum einen wegen dem dann bevorstehenden Wahlkreistourismus, aber auch wegen der Benachteiligung kleiner Parteien. Zwar hat Andi den Q011 nicht komplett verstanden, weil er keineswegs das Verhältniswahlrecht allein durch Mehrmandate-Wahlkreise ersetzen möchte, sondern durchaus auch auf kleinere Parteien noch zusätzliche Sitze nach Proporz verteilt, aber alleine der Aufwand, bundesweit flächendeckend in allen Wahlkreisen Kandidaten zu finden, Mitglieder, die diese wählen, und Aktivisten, die die Unterstützerunterschriften sammeln, führt zu einer gravierenden Benachteiligung kleiner Parteien. Es ist bspw. zu vermuten, dass wir als Piratenpartei zur Bundestagswahl 2009 in etwa ¼ bis ⅓ der Wahlkreise die Voraussetzungen nicht erfüllt hätten. Dort wären wir dann nicht wählbar gewesen, und hätten dadurch keine 2 vor dem Komma gehabt, sondern vielleicht 1,4% oder 1,7% geholt. Das hätte nicht dieselbe Aufmerksamkeit gebracht, und u.U. hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen.

Mehrmandate-Wahlkreise sind aber aus meiner Sicht bei Bundestagswahlen nicht nur überflüssig, sie können sich auch schädlich auswirken bzw. den demokratiefördernden Effekt der offenen Listen konterkarieren. Jetzt fange ich nämlich mal mit meinen eigenen Beobachtungen hier bei mir vor Ort in Hamburg an. Und zwar gefällt es den etablierten Parteien hier absolut nicht, dass der Wähler es wagen könnte, ihre Listenreihenfolge durcheinander zu bringen. Deswegen gibt es bei denen interne Vereinbarungen, im Wahlkreis nur den Spitzenkandidaten zu bewerben. Als Folge gab es in 17 Wahlkreisen nur 3 Fälle, wo nicht die Nr. 1 der Wahlkreisliste auch die meisten Personenstimmen auf sich vereinigt hat. (Davon war es einmal nicht relevant, weil beide ein Mandat bekamen, und ein anderer hat sich über diese Abmachung hinweggesetzt und tatsächlich durch aktiven Personenwahlkampf gegen seinen "Parteifreund" durchgesetzt. Auch in Bezug auf die Landeslisten wurde von allen großen Parteien konsequent nur der Spitzenkandidat beworben, der damit dann teilweise 70% der Personenstimmen sammelte, mit der Folge dass unter den übrigen teilweise sehr wenige Stimmen ausreichten, um auch von hinteren Listenplätzen in die Bürgerschaft gewählt zu werden.

Diese Praxis wird sich meiner Ansicht nach bei offenen Landeslisten, ohne Wahlkreise, nicht aufrechterhalten lassen, denn untergeordnete Gebietsverbände, die bei der Aufstellung der Landesliste nicht wohlwollend berücksichtigt wurden, werden versuchen, ihre eigenen Kandidaten doch noch ins Parlament zu bekommen. Andere müssen dann nachziehen, und die Folge wird hoffentlich sein, dass wir als Wähler über kurz oder lang mehr Politiker kennenlernen, ihre Positionen, ihre Werte und ihre Differenzen, statt nur den Kanzlerkandidaten und den örtlichen Wahlkreismenschen.

Alternativstimme

Eine weitere Komponente im Vorschlag PA014 (und auch in Q011) ist die sogenannte Alternativstimme. Hierbei kann jeder Wähler neben seiner eigentlichen Stimme eine Ersatzstimme abgeben, falls die erste Wahl es nicht über die 5%-Hürde schaffen sollte, so dass man dann doch noch irgendwie auf die Zusammensetzung des Parlaments einwirken kann. Außerdem nötigt dieses System die Wähler von Kleinparteien nicht dazu, taktisch zu wählen und lieber eine "sichere" Wahl zu treffen, so dass kleinere Parteien auch eher eine Chance haben, entgegen den Vorhersagen doch die 5% zu schaffen.

Dagegen ist erstmal nichts zu sagen. Wenn man die Alternativstimme zum Nulltarif einführen könnte, hätte ich sie auch in meinen Antrag aufgenommen. Leider addiert sie Komplexität zum Verfahren hinzu, und ich bin mir mit Andi Popp einig, dass sie in Kombination mit Kumulieren/Panaschieren, in der Art wie im Antrag Q011 vorgesehen, die akzeptable Grenze der Komplexität – sowohl aus Sicht des Wählers, als auch aus Sicht der Auszähler – bei weitem übersteigt.

PA014 hat dieses Problem nicht, weil er Kumulieren/Panaschieren nicht nutzt, sondern jedem Wähler nur eine einzige Stimme zugesteht. Das ist eine Frage der Prioritäten. Ich hab mich dafür entschieden, das Kumulieren/Panaschieren mit aufzunehmen, weil es die Wahlfreiheit aller Wähler erhöht, statt nur eine Anwendungsmöglichkeit für ca. 5% der Wähler zu bieten, mit der die übrigen 90%+ überhaupt nichts anfangen können.

Fazit

Die Tabelle mit den Schulnoten, die Andi Popp erstellt hat, ist extrem subjektiv darauf ausgelegt, seinen Vorschlag als den besten darzustellen. Zum Teil hat er leider die konkurrierenden Vorschläge auch einfach nicht vollständig verstanden. Ich hab mal für mich die Schulnoten angepasst, und komme auf 2,8 für meinen Antrag Q037, 3,0 für PA014 von Andi und 3,6 für Q011. ;)

Ich komme also abschließend zum Ergebnis, dass mein Antrag Q037 der beste ist. Der PA014 ist auch nicht schlecht, setzt aber andere Prioritäten als ich wichtig finde, und das Nebeneinander von Landeslisten und großen Mehrmandate-Wahlkreisen macht wenig Sinn. Außerdem entstünde bei einer Aufnahme des Antragstextes ins Wahlprogramm ein Widerspruch zu unserem Grundsatzprogramm, in dem Kumulieren und Panaschieren explizit gefordert wird. Das macht einen extrem schlechten Eindruck. Zu einer sorgfältigen Arbeit hätte daher meiner Meinung nach mindestens gehört, im gleichen Zug auch eine Änderung des Grundsatzprogramms zu beantragen.

Der Antrag Q011 landet dagegen abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Art und Weise, wie dort alles mit aufgenommen wird, was irgendwo an Mechnismen zur Demokratisierung des Wahlrechts zu finden war, ist sicherlich gut gemeint, aber eine zu hohe Komplexität im Wahlsystem spielt eher den Gegnern dieses Systems in die Hände. Ein Wahlsystem muss einfach erklärbar sein, um die Beteiligungshürde gering zu halten. Außerdem ist die Öffentlichkeit es hierzulande gewöhnt, im Laufe des Abends den Wahlsieger zu erfahren, und nicht erst ein paar Tage später, wie es erwartungsgemäß nach Q011 der Fall wäre. Der wahre Showstopper ist allerdings das Wahlkreisprinzip, dass kleine Parteien über Gebühr benachteiligt, was auch durch die Alternativstimme nicht annähernd aufgewogen wird. Es könnte auch interessant sein, das Modell einmal verfassungsrechtlich auf Konformität mit dem Föderalismusprinzip zu überprüfen.

Post scriptum

Ein weiteres Argument gegen PA014 ist taktischer Natur. Andi beruft sich mehrmals darauf, sein Vorschlag sei der Vorschlag vom Mehr Demokratie e.V. (Autoritätsargument). Das ist selbstverständlich auch richtig. Wenn es aber mehrere gleichwertige Alternativen gibt, wenn also jemand meint, mein Antrag und der von Andi wären auf ihre jeweilige Art ähnlich gut, könnte es sinnvoll sein, gerade nicht genau den Entwurf von Mehr Demokratie zu übernehmen. (Mein eigener Antrag beruht übrigens auf dem Bremer und Hamburger Wahlrecht, die auch beide von Mehr Demokratie entworfen wurden.)

Ich sehe im Moment eine mögliche Roadmap, zu einem demokratischeren Bundestagswahlrecht zu kommen. Die verschiedenen Lager im Bundestag sind sich nicht einig, und es steht zu vermuten, dass die nächste Bundestagswahl nach einem Wahlrecht stattfinden wird, dass schwarz-gelb mit knapper Mehrheit beschlossen hat. (Oder es wird wieder gekippt, und sie beschließen entweder noch was neues, oder es wird nach einem vom BVerfG bestimmten Interimswahlrecht gewählt.) Sollten die Mehrheitsverhältnisse nach dieser Wahl kippen, könnte die SPD das Wahlrecht ändern wollen, z.B. um die Überhangmandate endgültig abzuschaffen, was die Union nicht freiwillig tun wird. So ein neues, von einer SPD-geführten Regierung ebenfalls mit einfacher Mehrheit verabschiedetes Wahlrecht hat aber auch keine höhere Legitimation als das von CDU/CSU, und könnte nach der nächsten Wahl wieder zurück geändert werden. Die SPD könnte also versuchen, sich Legitimation zu verschaffen durch Einbeziehen der Zivilgesellschaft, namentlich Mehr Demokratie. Wir sollten deren Position daher nicht verbrennen, indem wir ihr ein Parteisiegel aufdrücken.