Bundesparteitag 2011.2/Antragsportal/Q037

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Tango-dialog-warning.svg Dieser Text ist (noch) keine offizielle Aussage der Piratenpartei Deutschland, sondern ein an den Bundesparteitag eingereichter Antrag. Jedes Mitglied ist dazu berechtigt, einen solchen Antrag einzureichen.

Antragsnummer

Q037

Einreichungsdatum

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Antragstitel

Positionspapier für ein demokratisches Bundestagswahlrecht

Antragsteller

Burkhard Masseida

Antragstyp

Positionspapier

Antragstext

Der Bundesparteitag möge als Positionspapier beschließen:

Positionspapier für ein demokratisches Bundestagswahlrecht

Die Piratenpartei Deutschland fordert die im Bundestag vertretenen Parteien auf, endlich ein verfassungskonformes Wahlgesetz zu verabschieden. Die durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts notwendig gewordene Reform des Wahlrechts soll sich dabei nicht auf einzelne, kosmetische Veränderungen zur Beseitigung des als verfassungswidrig angesehenen sogenannten "negativen Stimmgewichts" beschränken. Stattdessen soll die Gelegenheit zu einer umfassenden Umgestaltung des Wahlrechts genutzt werden, die den Bürgern mehr demokratische Gestaltungsmöglichkeiten bei der Zusammensetzung des nationalen Parlaments einräumt. Parteitaktische Erwägungen, die alleine davon geprägt sind, der eigenen Partei Vorteile im Wettbewerb zu verschaffen oder zu erhalten, dürfen keine Rolle spielen. Angesichts der zerfahrenen Verhandlungssituation zwischen den derzeitigen Regierungs- und Oppositionsparteien bei diesem Thema kann nur ein Entwurf nach zivilgesellschaftlichen Vorstellungen, wie sie bspw. seit Jahren vom Verein Mehr Demokratie e.V. vertreten werden, einem neuen Wahlrecht zur notwendigen breiten Legitimation verhelfen. Mit knappen Mehrheiten verabschiedete Wahlgesetze, die jederzeit unter dem Vorbehalt stehen bei einem Regierungswechsel wieder gekippt zu werden, beinhalten dagegen ein nicht hinnehmbares Schadenspotential für das Ansehen unserer Demokratie. Das derzeitige Dilemma ist gleichzeitig eine große Chance, das Wahlrecht grundlegend zu verbessern, dadurch den Einfluss der Wähler auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages spürbar zu erhöhen, und den der Parteien entsprechend zu verringern.

Die Piratenpartei schlägt aus diesen Gründen für ein künftiges Bundestagswahlrecht folgende Eckpunkte vor:

Offene Listen

Nach §1 (1) BWahlG wird der Bundestag "nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt". Diese Beschreibung des geltenden Zwei-Stimmen-Systems ist allerdings nach praktischen Gesichtspunkten eher als euphemistisch zu betrachten. In der Realität gibt es sogenannte "sichere Wahlkreise" und Kandidaten aus "unsicheren Wahlkreisen" werden über die Landesliste abgesichert, so dass die Anzahl der Wahlkreise, bei denen das Erstimmenergebnis die Zusammensetzung des Bundestags tatsächlich beeinflusst, im Allgemeinen im einstelligen Prozentbereich liegt. Faktisch stehen dadurch schon vor der Wahl regelmäßig ca. 80% der kommenden Abgeordneten fest.

Die Piratenpartei fordert daher ein echtes "personalisiertes Verhältniswahlrecht" durch die Verwendung offener Landeslisten, auf denen jeder Wähler neben der Partei auch einzelne Personen wählen kann. Die Mandate werden nach dem Sainte-Laguë-Verfahren zuerst auf die erfolgreichen Parteien, nachfolgend auf deren Landeslisten, und dann zuerst nach Listen- und dann nach Personenstimmen auf die einzelnen Kandidaten verteilt. Damit die Parteien den Wählern eine ausreichende Menge Kandidaten zur Verfügung stellen, wird die Reihenfolge der Listenvorschläge auf dem Stimmzettel nicht mehr primär nach dem letzten Wahlergebnis bestimmt, sondern nach der Anzahl der Listenkandidaten, bis hin zu einer länderabhängigen Obergrenze. Diese entspricht der doppelten Zahl der bei bundesweit gleichmäßiger Wahlbeteiligung auf das entsprechende Bundesland entfallenden Mandate.

Kumulieren und Panaschieren

Um den Bürgern einen größeren Einfluss auf die Zusammensetzung seiner Vertreterversammlungen zu gewähren, existiert in den Kommunalwahlgesetzen verschiedener Länder seit langem die Möglichkeit, mehrere Kandidaten zu wählen. Jeder Wähler darf also nicht bloß eine einzige Stimme vergeben, sondern eine festgelegte Anzahl. Diese kann er auf einen einzigen Wahlvorschlag konzentrieren (Kumulieren), oder sogar über mehrere Parteien streuen (Panaschieren). Das traditionelle Verfahren aus den süddeutschen Ländern behindert jedoch kleinere Parteien, da für eine gleichberechtigte Teilnahme an der Wahl eine Vielzahl von Kandidaten aufgestellt werden müssen, und führt zu besonders großen und unübersichtlichen Stimmzetteln.

Die Piratenpartei schlägt daher ein System vor, wie es in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg durch erfolgreiche Volksbegehren eingeführt wurde. Demnach erhält jeder Wähler die Möglichkeit, bis zu fünf Stimmen zu vergeben.

Abschaffung der Erststimme

In den früheren Zeiten der großen Volksparteien, als es das Internet noch nicht gab und die Mobilität der Bürger noch sehr eingeschränkt war, mag es seine Berechtigung gehabt haben, dass jeder Wahlkreis seinen eigenen zuständigen Abgeordneten hatte, der oft von einer absoluten Mehrheit gewählt wurde und allgemeinen Respekt genoss. Dies ist aber nicht mehr zeitgemäß. Auf Grund des Prinzips der relativen Mehrheit reichen heutzutage regelmäßig Ergebnisse um 30% aus, um ein Direktmandat zu erlangen. Bei zusätzlich sinkenden Wahlbeteiligungen ist die Legitimation dieses Abgeordneten, alle Bürger seines Wahlkreises zu vertreten, nur noch als gering einzustufen. Hinzu kommt, dass durch die regelmäßige Absicherung der Wahlkreiskandidaten über Listenplätze die endgültige Zusammensetzung des Bundestages sowieso nur in absoluten Einzelfällen vom Erststimmenergebnis beeinflusst wird. Die tatsächliche Hauptfunktion der Erststimme in unserem heutigen Wahlsystem besteht also tatsächlich darin, Anomalien wie Überhangmandate oder negatives Stimmgewicht hervorzurufen.

Die Piratenpartei Deutschland schlägt daher die ersatzlose Abschaffung der Erststimme vor.

Als Alternative zum existierenden Wahlkreisprinzip werden des öfteren Mehrpersonenwahlkreise vorgeschlagen. Diese würden es in der Tat wieder mehr Wählern ermöglichen, von einem persönlichen Wahlkreisabgeordneten vertreten zu werden. Allerdings müsste die Größe solcher Wahlkreise im Gegenzug vervielfacht werden, um im Bundestag auf dieselbe Anzahl Abgeordneter zu kommen. Von einem örtlichen Bezug kann keine Rede mehr sein, wenn bspw. Mecklenburg-Vorpommern in zwei Wahlkreise aufgeteilt würde, und Bremen und das Saarland müssten zwangsläufig aus einem einzigen Wahlkreise bestehen. Der Unterschied zwischen der Wahlkreisstimme und der Landesstimme wäre in derartigen Fällen kaum vermittelbar.

Die Piratenpartei hält daher auch Mehrmandatswahlkreise bei Bundestagswahlen für überflüssig. Eine Personalisierung wird bereits durch das Prinzip der offenen Listen angestrebt. Es ist zu erwarten, dass örtliche Gebietsverbände von Parteien Werbung für ihre Kandidaten machen, so dass der Verzicht auf Wahlkreise den innerparteilichen Wettbewerb der Kandidaten eher befördern wird, anstatt dass der Wahlkampf so wie derzeit alleine auf den Spitzenkandidaten konzentriert wird. Diese Möglichkeit der Personalisierung und Bevorzugung lokaler Politiker bei der Wahl steht dann nicht mehr ausschließlich den Wählern großer Parteien zur Verfügung, sondern allen gleichermaßen.

Sperrklausel

Die Sperrklausel von 5% über das gesamte Bundesgebiet kann bis auf weiteres bestehen bleiben. Durch den Wegfall der Erststimme ergibt sich jedoch das Problem, dass die Grundmandatsklausel ebenfalls nicht mehr zur Verfügung steht. Es ist nicht wünschenswert, dass regionale Volksparteien wie die CSU oder die LINKE im Fall, dass sie bundesweit unter fünf Prozent sinken, nicht mehr im Bundestag vertreten wären. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht zu begründen, dass jene Stimmen, die solche Parteien außerhalb ihres Stammgebietes erhalten, und wo sie dementsprechend deutlich unter der Sperrklausel liegen, mit einberechnet werden.

Der Vorschlag der Piratenpartei lautet daher, die Grundmandatsklausel durch eine länderspezifische 20%-Hürde zu ersetzen. Parteien, die bundesweit weniger als 5% der Stimmen auf sich vereinen, jedoch in einzelnen Ländern über 20%, werden bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt, allerdings nur mit den Wählerstimmen aus jenen Ländern, wo sie die 20%-Hürde überwunden haben.

Antragsbegründung

Warum wir ein neues Bundestagswahlrecht brauchen, und welche Vorteile das oben beschriebene bietet, steht schon im Antrag. Daher hier ein paar Anmerkungen zu den Unterschieden zu konkurrierenden Anträgen:

PA045 – Positionspapier für ein demokratischeres Wahlrecht auf Bundes- und Landesebene

Dieser Antrag sieht vor, Landeslisten komplett abzuschaffen, und nur noch auf Mehrmandatewahlkreise zu setzen. Jeder Wahlkreis entsendet eine feste Anzahl Abgeordneter, die übrigen Mandate werden proportional auf vorerst nicht erfolgreiche Wahlkreiskandidaten der Parteien verteilt. Das ist aus mehrerlei Hinsicht schlecht:

  • Es schränkt die Wahlfreiheit der Wähler ein. Warum sollte ich als Bewohner des zukünftigen Wahlkreises Hamburg-West zwar die freie Auswahl unter allen west-hamburgischen Kandidaten haben, aber keinen vernünftigen ost-hamburgischen wählen dürfen? Die Grenzen der Wahlkreise verlaufen oft mitten durch Städte. In abgeschwächter Form gilt dieses Argument zwar auch für Landeslisten – schließlich könnte es ja auch von mir geschätzte niedersächsische Politiker geben – lässt sich aber in diesem Fall zumindest mit dem Föderalismus-Prinzip begründen, und außerdem werden die Wahlbereiche durch etablierte Grenzen bestimmt, und nicht willkürlich irgendwo durch die Landschaft gezogen.
  • Die Aufstellung der Kandidaten wird von der Landesebene auf untergeordnete Ebenen verlagert. Das verhindert, dass sich parteiintern die besten Kandidaten durchsetzen bzw. zwingt Kandidaten, in anderen Wahlkreisen anzutreten, wenn gerade zufällig mal zwei oder mehr Spitzenpolitiker aus demselben Wahlkreis stammen. Es behindert dadurch auch, dass sich starke Persönlichkeiten hinter dem jeweiligen Spitzenkandidaten profilieren können, da sie nur in ihrem Wahlkreis sichtbar sind.
  • Kleine Parteien werden extrem benachteiligt, weil sie einen viel größeren Aufwand betreiben müssen, um flächendeckend antreten zu können. Nach diesem Wahlsystem hätten wir z.B. 2009 höchstwahrscheinlich keine 2% bekommen, weil wir in großen Teilen Ostdeutschlands, aber auch einigen westlichen Flächenländern, gar nicht die Strukturen hatten um in jedem Wahlkreis Kandidaten aufzustellen und Unterschriften zu sammeln.

Der Antrag möchte weiterhin als Leitlinie sowohl für Bundestags- als auch Landtagswahlgesetze dienen. Mit ihren Landtagswahlen sollten sich aber die Landesverbände selber beschäftigen. Dass sie sich dabei von existierenden Systemen und Programmen inspirieren lassen, ist normal, aber die Bundespartei sollte den Landesverbänden in dieser Frage nichts vorschreiben. Insbesondere möchten die LVs aus Ländern mit fortschrittlichem Wahlrecht, wie bspw. Hamburg oder Bremen, vielleicht lieber dieses gegen reaktionäre Versuche eines Rollbacks verteidigen, anstatt irgendwelche anderen Forderungen zu vertreten, die vom Bund vorgeschrieben werden.

Das Ersatzstimmen-Konzept klingt zwar nicht unbedingt schlecht, verkompliziert aber das Wahlrecht unverhältnismäßig für den alleinigen Nutzen einer kleinen Minderheit. Insbesondere in Verbindung mit Kumulieren und Panaschieren eröffnet man Kritikern die einfache Möglichkeit, über das Argument "das versteht keiner" gegen das gesamte Wahlsystem zu argumentieren. Als Hamburger hab ich das selber miterlebt. Schon das einfache Kumulieren und Panaschieren wurde aus bürgerlichen Kreisen arg kritisiert, und es gibt in SPD und CDU Kräfte, die das gerne wieder abschaffen würden.

Auch bei der Auszählung wird es Schwierigkeiten geben. Bei knappen Ergebnissen müsste theoretisch jedes Wahllokal warten, bis alles ausgezählt ist, und dann nochmal die Stimmen der Wahlvorschläge verteilen, die wegen der 5%-Hürde wegfallen. Die Leute sind es gewöhnt, am Abend gültige Ergebnisse vorliegen zu haben. Dieser Aufwand für einen traditionell niedrigen Anteil "Sonstige"-Wähler bei Bundestagswahlen erscheint mir zu hoch. Die Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens, seine Stimmen auf sichere und Wackelkandidaten zu verteilen, sind ausreichend.

PA014 – Wahlrechtsvorschlag von Mehr Demokratie e.V. ins Wahlprogramm

Dieser Vorschlag verzichtet auf Kumulieren und Panaschieren, und setzt als Ersatz auf die Alternativstimme. Das wäre zumindest nicht so kompliziert wie PA045, und damit eine Sache der Abwägung. Da Kumulieren/Panaschieren aber jedem Wähler zugute kommt, auch wenn jemand bspw. Koalitionen wählen möchte, oder mehrere bestimmte Kandidaten, würde ich das der Alternativstimme vorziehen.

Desweiteren setzt dieser vorschlag auf Mehrmandatswahlkreise plus Landeslisten. Warum das nicht besonders sinnvoll ist, steht oben im Antrag. Eine mögliche Beibehaltung von Erst- und Zweitstimme würde sich ergeben, wenn man zusätzlich zu den Wahlkreisen auf Bundes- statt auf Landeslisten setzt, aber allein die Existenz der CSU wird jeglichen Versuch in diese Richtung verhindern. Er würde auch mit dem Föderalismusprinzip kollidieren und die Landesverbände im Vergleich zum Bund schwächen.

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    Datum der letzten Änderung

    16.11.2011

    Antragsgruppe

    Demokratie

    Status des Antrags

    Pictogram voting keep-light-green.svg Geprüft