Projektgruppe Finanzkrise/Wortprotokoll/Ganzer Text
Podiumsdiskussionen: Erste Runde| Zweite Runde | Weitere geplante Podiumsdiskussionen
Ergebnisse: Stellungnahme zum ESM bezüglich des 29.6. | Diskussion der Stellungnahme
Inhaltsverzeichnis
- 1 Begrüßung und Vorstellung sowohl der Referenten als auch der Projektgruppe ESM
- 2 Rechtliche Position von Mehr Demokratie e.V.
- 3 Zustandekommen des ESM-Vertrages
- 4 Europa- und Völkerrecht
- 5 Transparenz und Beteiligung des Parlamentes
- 6 Haftung Deutschlands
- 7 Warum eine neue internationale Organisation?
- 8 Immunität (1/3)
- 9 Sicherung gegen Lobby-Interessen
- 10 Immunität (2/3)
- 11 Direkte Bankenfinanzierung durch den ESM
- 12 Volksabstimmung geboten?
- 13 Warum spielt der IWF im ESM-Vertrag so eine wichtige Rolle?
- 14 Übertragung von Hoheitsrechten durch den Fiskalpakt?
- 15 Zusammenfassung der Ergebnisse
- 16 Zukunft der EU
- 17 Immunität (3/3)
- 18 Reflektion
Begrüßung und Vorstellung sowohl der Referenten als auch der Projektgruppe ESM
Matthias Garscha: Wir sind heute hier versammelt im Raum der AG Wirtschaft zur ersten Podiumsdiskussion in dem Problembereich ESM/Fiskalpakt. Heute zu Gast haben wir zum einen Dr. Christian Heidfeld, geboren 1981. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Mayer an der Universität Bielefeld, und hat an der Erarbeitung der Stellungnahme für den Haushaltsausschuss des Bundestages mitgearbeitet.
Zum zweiten begrüßen wir Herrn Tim Weber. Er vertritt den Mehr Demokratie e.V. hier heute Abend. Heute Abend wird der Geschäftsführer von Mehr Demokratie e.V. gegen 22:00 eine einstweilige Verfügung in Karlsruhe gegen den ESM beantragen.
Wir haben ein Fragepad, das links gepostet ist. Ich übergebe an die Referenten, die erstmal etwas über sich selbst sagen möchten. Erstmal an Christian Heidfeld und dann an Tim Weber.
Christian Heidfeld: Guten Abend. Ich freue mich, dass ich hier heute, sprechen darf. Ich bin seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Herrn Prof. Dr. Mayer. In dieser Zeit habe ich sowohl an den Verfahren zum Vertrag von Lissabon als auch zum ersten Eurorettungsverfahren mitgearbeitet. Deswegen kenne ich mich ein wenig mit den juristischen Aspekten des ESM und der Eurokrise aus.
Tim Weber: Ich bin von der Ausbildung her Politikwissenschaftler, seit 20 Jahren bei Mehr Demokratie e.V. aktiv. Wir beobachten den Prozess der EU-Integration vor allen Dingen aus demokratietheoretischer Sicht. Wenn man sich mit Demokratie beschäftigt, ist man immer auch mit Verfahrensfragen und auch mit verfassungsrechtlichen Fragen betraut. Wirtschaftswissenschaftlich, glaube ich, dass hier viele mehr zu bieten haben als ich es habe. Das ist nicht meine stärkste Seite. Bezogen auf die EU-Ebene beobachten wir seit den Maastricht- Entscheidungen den Prozess, haben hier verschiedene Kampangen gestartet, auch Vorschläge gemacht, wie man die EU-Ebene demokratisieren kann. Das ist natürlich heute Abend auch der Punkt, der mich interessiert.
Matthias Garscha: Zu unserer Projektgruppe ESM möchte ich auch noch ein paar Worte sagen. Wir haben uns vor ca. 4 Wochen gebildet, fast so als eine Notprojektgruppe, die nach dem viele Versuche innerhalb der Piratenpartei sich dem Thema ESM zunähern noch nicht ganz zur Zufriedenheit der meisten hier gelungen sind. Auch die Abstimmungsergebnisse in unserem Demokratietool Liquid Feedback waren noch nicht optimal. Diese sind vor einigen Wochen zu Ende gegangen; es haben sich fast 800 Piraten beteiligt. So sind wir zu der Erkenntnis gekommen, Mitglieder aus 3 Arbeitsgemeinschaften haben sich hier zusammengeschlossen und eine Projektgruppe ESM aufgemacht. Heute finden die Abstimmungen im Bundestag und Bundesrat statt, just in dem Moment, wo wir uns heute zu dieser Podiusmdiskussion treffen. Wir haben dann mit dieser Projektgruppe angefangen, drei Bereiche versuchen auszuleuchten:
- den, den wir heute haben besprechen: den rechtlichen und demokratietheoretischen.
- die nächste Veranstaltung wird dann die ökonomische Seite betrachten und die
- abschließende, politisch-gesellschaftliche Dimension.
Vor diesem Hintergrund möchte ich jetzt an meinen Mitmoderator Robert übergeben.
Robert Arnold: Ich bin Robert Arnold. Mein Anliegen ist vor allen Dingen, dass wir mehr verstehen, wie der ESM gebaut ist und dass wir gucken, welche Fragen bzw. Antworten stimmen eigentlich? Wie demokratisch ist der ESM? Wie sehr wird das Haushaltsrecht des Bundestages tangiert? Solche Fragen, dass wir da mal genauer hingucken. Ich möchte noch eine technische sagen für diejenigen, die heute das erste Mal an einer Podiumsdiskussiion in Mumble teilnehmen: Wer eine Frage stellen möchte, stellt sich bitte am Saalmikrofon an. Er oder sie wird dann aufgerufen, seine Frage zu stellen.
Mumble-Nutzer: Kannst Du Dich selbst ein bisschen vorstellen?
Robert Arnold: Ich bin Robert Arnold und engagiere mich seit April bei den Piraten in Bremen. Ende April habe ich an der Konferenz der bundesweiten AG Wirtschaft in Hamm teilgenommen, wo sich eine Gruppe gebildet hat, die sich näher mit dem ESM auseinander setzt. Diese Gruppe hat den ESM genau gelesen, Antworten auf häufige Fragen erarbeitet, siehe http://wiki.piratenpartei.de/ESM. Daraus ist auch eine Antrag beim Bremer Landesparteitag geworden, der im Mai angenommen wurde. Der Antrag „Transparenz und Unabhängigkeit für den ESM“ wurde auch in Liduid Feedback abgestimmt und hat dort die höchste Zustimmungsquote aller alternativen Anträge errecht, nämlich 71%. Ich würde dann gerne inhaltlich einsteigen. Ich möchte dazu Herrn Weber bitten vorzutragen, aus welchen Gründen heute Mehr Demokratie e.V. eine Klage gegen den ESM bzw. den Fiskalpakt einreichen wird.
Rechtliche Position von Mehr Demokratie e.V.
Tim Weber: Vorweg möchte ich zu Mehr Demokratie e.V. sagen: Wir treffen uns in der Verfahrensfrage, dass wir Volksabstimmungen auf allen Ebenen für wichtig halten; wir beschäftigen uns auch mit Fragen des Wahlrechts. Aber bezüglich der EU gibt es bei uns ganz unterschiedliche Positionen. Es gibt sehr EU-kritische Positionen, aber auch sehr EU freundliche. Wenn man sich die EU anguckt, dann ist es ein Projekt, das historisch als auch sachlich begründet ist. Es gibt viele Themenfelder, wofür wir die EU brauchen: sei es im Bereich Umweltschutz, der Sozialversicherung bei zunehmender Mobilität von Arbeitskräften oder wie jetzt ganz aktuell bei gegenseitigen Hilfestellungen / Rettungsmaßnahmen in der Währungs- und Finanzpolitik. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einen sehr großes demokratisches Unbehagen an der EU, weil wichtige Entscheidungen auf einer Ebene getroffen worden sind, wo man nicht genau weiß: Wie kommt diese Entscheidung zustande? Welche Interessen spielen da eine Rolle? Man kann an dem Prozess des ESM- und Fiskalvertrages sehr gut sehen, was auf der EU-Ebene alles schief läuft.
- Dies ist zum einen, dass die Europäischen Verträge selbst nicht eingehalten werden. Es gab – oder ist gibt – die No-Bail-out-Klausel in Artikel 125 AEUV, die wurde missachtet. Es wurde dann, um dies zu reparieren, der Artikel 136, Absatz 3, in den AEUV eingeführt. Dies wurde aber nach dem vereinfachten Verfahren gemacht. Wir sind hier der festen Überzeugung, dass man nach dem ordentlichen Verfahren, das in Artikel 48 Abs. 2 und 3 AEUV geregelt ist, hätte vorgehen müssen. Also über die Konvents-Methode und nicht über das vereinfachte Verfahren (Artikel 48 Abs. 6), wie es tatsächlich gemacht wurde.
- Der Zweite Punkt, den wir kritisieren, ist, dass in unseren Augen eine Übertragung von Hoheitsrechten stattfindet – und ich weiß, dass Herr Heidfeld das anders sieht – während ich das beim ESM-Vertrag noch nachvollziehen kann, dass man es so sehen _kann_, kann ich es beim Fiskalvertrag nicht mehr nachvollziehen. Wir sind der Meinung, dass, wenn Hoheitsrechte übertragen werden, zwingend eine Volksabstimmung stattfinden muss. Dies ist einerseits eine politische Position, aber wir halten es auch für verfassungsrechtlich geboten. Darum reichen wir heute die Verfassungsbeschwerde bzw. den Antrag auf einstweilige Anordnungund auch die Verfassungsbeschwerde beim Verfassungsgericht ein.
Die Kampange „Europa braucht Demokratie“, die wir gestartet haben, hat noch einen zweiten Teil: Wir fordern auch die Einrichtung eines Europäischen Konventes ein, damit man die Frage, wie wir in Europa zusammen leben wollen, wie wir in Europa Demokratie gestalten wollen, grundsätzlich bearbeitet.
Matthias Garscha: Vielen Dank, Herr Weber für diese ersten Ausführungen. Von Herrn Heidfeld, der – wie gesagt – wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Mayer ist – wollen Sie auch ein paar Worte von Ihrer Seite, von Ihrer Bewertung von ESM und Fiskalpakt hier ausführen?
Christian Heidfeld: Gerne, dafür bin ich heute hier. Darauf darzustellen, wie es zum ESM / Fiskalpakt gekommen ist, verzichte ich und gehe gleich zur rechtlichen Würdigung von beiden Maßnahmen über. Wenn Sie mir vielleicht gestatten, so 3-5 Minuten darauf zu verwenden, würde ich zunächst kurz auf das Europarecht eingehen: Herr Weber hat im Grunde schon den rechtlichen Ansatz, der beim Europarecht problematisch ist, herausgestellt, nämlich die sogenannte No-Bail-out-Klausel in Artikel 125 AEUV. Diese No-Bail-out-Klausel sagt, dass weder die EU noch die einzelnen Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten haften und auch nicht in solche Verbindlichkeiten eintreten. Die Auslegung des Artikels 125 AEUV ist allerdings umstritten:
- Es gibt Stimmen, die sagen: Damit ist alles verboten, was auch nur irgendwie hilft.
- Es gibt aber auch andere Ansichten, die sagen: Eigentlich sagt der Artikel nur: Es besteht kein Anspruch auf Hilfe, freiwillig darf man alles machen.
Ich vertrete dazu die folgende Ansicht: Im Grunde verbietet Art. 125 AEUV den einzelnen Mitgliedstaaten nur als Bürgen in eine bestehende Schuldbeziehung einzutreten, womit beispielsweise Eurobonds nicht machbar wären. Art. 125 AEUV verbietet aber nicht, eine neue Verbindlichkeit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten zu begründen, wie es bei den Griechenlandhilfen der Fall war und so wie es auch beim ESM der Fall ist. Das kann man natürlich auch anders sehen – das ist auch der Grund, warum man Artikel 136 Absatz 3 AEUV neue Fassung einfügen will (diese neue Fassung ist aber noch nicht ratifiziert). Ich sehe den Artikel 136 Absatz 3 aber eher deklaratorisch, d.h. er stellt nur klar, was möglich ist.
Ob man das in einem ordentlichen Verfahren oder im vereinfachten Verfahren hätte machen müssen? – Meines Erachtens ist das vereinfachte Verfahren einschlägig, da durch 136 Abs. 3 AEUV n.F. keine neuen Zuständigkeiten auf die EU übertragen werden. So viel vielleicht erstmal zum Europarecht.
Wie sieht es nun verfassungsrechtlich mit den einzelnen Hilfsmaßnahmen und auch dem ESM aus? Verfassungsrechtlich ist die erste Frage immer: Wie stimmt man dem zu?
- Da es sich beim ESM und beim Fiskalpakt um völkerrechtliche Verträge handelt, kommt zunächst Art. 59 Abs. 2 GG in Betracht.
- Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19.6. kann man aber zweifeln, ob das die richtige Grundlage für eine Zustimmung ist. Denn das Bundesverfassungsgericht hat zum ESM ausgeführt, dass der ESM eine Angelegenheit der EU ist, so dass hier Art. 23 I 1 GG einschlägig wäre.
Für die einzelnen erforderlichen Mehrheiten ändert das allerdings faktisch nichts. Der ESM wird wohl heute sogar mit 2/3-Mehrheit ratifiziert werden. Nach Art. 23 I 1 GG hätte aber eine einfache Mehrheit im Bundestag und Bundesrat ausgereicht, so dass es hier wohl keine verfassungsrechtlichen Probleme geben wird.
Meines Erachtens wird es, auch in den Klageverfahren, vielmehr eine Rolle spielen, ob das Prinzip der Haushalsverantwortung beim ESM gewahrt wurde. Dieses Prinzip besagt – es leitet sich aus dem Demokratieprinzip ab –, dass der Bundestag bei allen wichtigen haushaltsrelevanten Angelegenheiten zustimmen muss. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ausgeführt, dass haushaltsbedeutsame Belastungen und die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben der Dispositionsbefugnis des Bundestags unterliegen müssen – und zwar anhaltend und kontinuierlich, nicht nur zu Beginn. Daher müsse jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder europarechtlichen Bereich vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden. D.h. also beim ESM, dass der Bundestag jeder einzelnen Disposition, z.B. der Vergabe eines Darlehens, zustimmen muss. Und da kommt es darauf an, was heute im Bundestag verabschiedet wird. Nach den Entwürfen für die Begleit- bzw. Zustimmungsgesetze zum ESM ist das wohl der Fall, so dass meines Erachtens nach der ESM nicht gegen das Prinzip der Haushaltsverantwortung verstoßen wird.
Zustandekommen des ESM-Vertrages
Robert Arnold: Ich würde gern noch mal auf den ersten, sozusagen vorgelagerten Punkt zurück kommen: Das Zustandekommen des ESM-Vertrages. Da hatte Herr Weber, fast ein bisschen nebenbei gesagt, bei der EU wisse man nicht, was für Interessen eine Rolle spielen und wie so ein Vertrag zustande kommt. Können Sie sagen, wieso ein Vertrag zustande kommt?
Christian Heidfeld: Es handelt sich erstmal um einen Vertrag, der nicht im Rahmen der EU ausgehandelt wurde, sondern um einen völkerrechtlichen Vertrag der Mitglieder der Währungsunion. Wie kommt so etwas zustande? – Durch Verhandlungen zwischen den Regierungen. Und ja, da muss ich Herrn Weber recht geben, bei der Aushandlung des ESM – das wurde auch in Karlsruhe festgestellt – wurden die Mitwirkungsrechte des Bundestages und auch des Bundesrates nicht immer beachtet. Denn es handelt sich um ein Vorhaben, dass zumindest Bereiche der EU tangiert, wie es das Bundesverfassungsgericht für den ESM festgestellt hat, und da hat der Bundestag Informationsrechte. D.h. er hat informiert zu werden über diese Verhandlungen, vereinfacht ausgedrückt. Das ist bei der Aushandlung des ESM nicht passiert. Dies hat das Bundesverfassungsgericht am 19.6. festgestellt.
Europa- und Völkerrecht
Unterschiede
Matthias Garscha: Soweit mir bekannt ist, ist der Fiskalvertrag (wegen des Widerstands Großbritanniens) noch nicht einmal im EU-Recht angesiedelt, sondern außerhalb. Können Sie da den Fiskalpakt da auch noch mal ausleuchten?
Christian Heidfeld: Der Fiskalpakt – wie übrigens auch der ESM – ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Also man hat da keinen Vertrag geschlossen, um beispielsweise die Europäischen Verträge zu ändern, wie z.B. der Vertrag von Lissabon. Das war ein Vertrag im europäischen Kontext, d.h. man hat dort die europäischen Verträge geändert. Das wollte man mit dem Fiskalpakt auch machen. Das ist aber an der – ich nenne es mal – „britischen Erpressung“ gescheitert. Als man den Fiskalpakt aushandeln wollte und im Europäischen Recht verankern wollte, haben die Briten gesagt: Wir machen da nur mit – und sie müssen da mit machen, um den Vertrag zu ändern –, wenn gewisse Regulierungen im Finanzmarkt bei uns nicht eintreten. Die Briten haben quasi gesagt: Wir machen da nur mit, wenn ihr uns von der Finanzmarktregulierung verschont. Das war für die anderen Mitgliedstaaten nicht hinnehmbar.
Matthias Garscha: Was gibt es für einen Unterschied, wenn man es nicht im EU-Recht machen kann, sondern auf diese neue Art und Weise? Gibt es da jetzt Nachteile dadurch?
Christian Heidfeld: Es gibt einen wesentlichen Unterschied: Im Europäischen Recht gilt der sog. Anwendungsvorrang des Europarechts. D.h. wir haben dann eine Durchgriffswirkung dieses Vertrages auf die nationalen Rechtsordnungen. Die Bestimmungen des Europarechts sind dann in den innerstaatlichen Rechtsordnungen unmittelbar anwendbar und haben Vorrang vor nationalem Recht. Jetzt haben wir mit dem Fiskalvertrag einen völkerrechtlichen Vertrag. Der bindet „nur“ völkerrechtlich. Somit besteht dort keine Durchgriffswirkung. Und das ist ein wesentlicher Unterschied, gerade wenn es um Fragen der Unkündbarkeit des Fiskalpaktes geht.
Tim Weber: Also Herr Heidfeld hat ja selber gesagt, man kann es dem Artikel 59 als völkerrechtlichen Vertrag zuordnen, andere sagen: es gehört zu Artikel 23. Da wahrscheinlich bei beiden Verträgen heute eine 2/3-Mehrheit zustande kommt, ist es prozessual nicht interessant. Aber es gibt Sichtweisen, die sagen: Es ist ein Zwischending. Es ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der Komplementär EU-Recht irgendwie beinhaltet, denn in beiden Verträgen haben EU-Institutionen (die Kommission, die EZB) durchaus Aufgaben zugeteilt bekommen. Es ist im Grunde eine typische EU-Lösung. Absicht ist es ja auch, beide Verträge ins EU-Recht zu überführen.
Überführung des ESM-Vertages und Fiskalpaktes in Europarecht
Matthias Garscha: Genauso habe ich heute die Rede der Kanzlerin im Bundestag verstanden, dass sie das überführen möchte. Geht das so einfach?
Tim Weber: Wenn man es in EU-Recht überführen möchte, setzt es Einstimmigkeit voraus, also irgendwann müsste Großbritanien und Tschechien auch dem Fiskalvertrag zustimmen. Es gibt natürlich immer die Kraft des Faktischen. Das heißt, es wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, wo das ins EU-Recht überführt wird und wo wahrscheinlich die anderen Regionen ihren Widerstand aufgeben werden. Das ist jetzt eine Prognose – ich weiß nicht, ob es so kommen wird.
Matthias Garscha: Herr Heidfeld, Ihre Meinung?
Christian Heidfeld: Dem kann ich mich im Ganzen nur anschließen. Eine Überführung des Fiskalpaktes würde die Zustimmung aller Mitgliedstaaten, also auch der Briten, erfordern. Ob es dazu kommt? - Es ist angedacht, innerhalb eines gewissen Zeitraumes, das ist aber eine politische Entscheidung und hängt auch von der Frage ab, ob die Briten wieder versuchen, sich irgendwelche Zugeständnisse zu erkaufen oder nicht? (Stichwort: Finanzmarktregulierung).
Transparenz und Beteiligung des Parlamentes
Auswirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 19.6.2012
Robert Arnold: Ich würde gerne noch mal auf die Frage hinaus, was das Urteil vom Bundesverfassungsgericht vom 19.6. jetzt für Auswirkungen für die Zukunft hat? – Bindet es die Bundesregierung beim Umgang mit dem ESM für die Zukunft?
Tim Weber: Ja, das kann man sagen: Diese Entscheidung vom 19.6.2012 hat ganz offensichtlich Einfluss auf den ESM-Vertrag bzw. auf das Begleitgesetz. Im Änderungsgesetz – ich beziehe mich auf die Drucksache 17/4550, – § 3 bis 7. Dort ist sehr genau geregelt, wann das Plenum, wann der Haushaltsausschuss und wann ein sogenanntes Sondergremium zustimmen müssen – und, auch in den §§ 4 und 5 ist es (meine ich), dass tatsächlich der Vertreter im ESM weisungsgebunden ist. Das ist tatsächlich eine neue Qualität, dass der Bundestag hier so weitgehende Mitbestimmungsrechte bekommt. Damit hat der Gesetzgeber das Urteil vom 19.6. berücksichtigt.
Christian Heidfeld: Ja, dem kann ich mich anschließen, wobei die §§ 3 ff. ESM-Finanzierungsgesetz hauptsächlich auf dem Urteil vom September letzten Jahres basieren, wo das Bundesverfassungsgericht für die EFSF festgestellt hat, dass der Bundestag umfangreiche Beteiligungsrechte haben muss. Darin hat das Bundesverfassungsgericht ganz klar ausgeführt, wann der Bundestag beteiligt werden muss. Es spielt dann – Stichwort Sondergremium – noch das Urteil von vor einigen Wochen eine Rolle, wo ja das Neuner-Gremium weitestgehend, bis auf Sekundärmarktaufkäufe, für verfassungswidrig erklärt wurde. Alle Urteile, auch jetzt das Urteil vom 19.6., werden natürlich in Zukunft und auch jetzt schon die Bundesregierung binden, klar.
Sind die Transparenz- und Beteiligungsforderungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils ausreichend?
Robert Arnold: Dann schließt sich die Frage unmittelbar an: Genügen die dadurch nun festgeschriebenen Beteiligungsrechte des Bundestages aus Ihrer Sicht oder wäre da noch mehr Transparenz, noch mehr Beteiligungsmöglichkeiten für den Bundestag notwendig?
Christian Heidfeld: Ich würde sagen, insbesondere unter Beachtung des Urteils des BVerfG vom September letzen Jahres, dass diese Mitwirkungsrechte des Bundestages ausreichen, da sie wirklich sehr umfassend ausgestaltet sind. Zudem steht in § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungsgesetztes, dass der Bundestag immer dann zustimmen muss, wenn die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages betroffen ist. Ganz interessant ist dann der Satz 2: „Die haushaltspoltische Gesamtverantwortung ist „insbesondere“ betroffen und dann folgt eine Aufzählung, die wegen des Wortes „insbesondere“ nicht abschließend ist. Das heißt, selbst wenn man irgendwo mal einen Beriech haben sollte, wo ein Beteiligungsrecht vielleicht noch nicht beachtet wurde, kann man über das Wort „insbesondere“ doch noch zu einer verfassungskonformen Auslegung der Begleitgesetzgebung kommen.
Tim Weber: Ich hätte mir natürlich gewünscht, aber das hat Herr Heidfeld im Grund auch angedeutet, dass man diese umfassenden Beteiligungsrechte auch schon bei den ersten Griechenlandhilfen, beim EFSF und auch jetzt beim ESM-Vertrag gehabt hätte. Ich möchte noch hinzufügen, auch § 7 dieses Begleitgesetzes (ich gehe davon aus, dass das heute verabschiedet wird), was eine umfassende Unterrichtungspflicht der Regierung an den Bundestag beinhaltet, ist zu begrüßen. Wenn man nur mal die parlamentarische Demokratie betrachtet, auf jeden Fall ein Fortschritt. Allerdings stellt sich natürlich auch die Frage, oder was verwundert, dass beim ESM selber, also bei dieser Institution, hier direkt parlamentarische Kontrolle überhaupt nicht vorgesehen ist; das ist eher wie ein „closed shop“ zu verstehen. Das einzige, was ich da jetzt im ESM-Vertrag finden konnte: Es gibt eine Pflicht, dass der ESM geprüft wird, dass ein Prüfungsausschuss gebildet wird, der kontrolliert, dass die Bücher ordentlich geführt werden. Der Bericht des Prüfungsausschusses wird den Rechnunghöfen und auch den nationalen Parlamenten zur Verfügung gestellt. D.h. wir haben über den Vertreter einen Einfluss und eine Kontrolle; einen direkten Zugriff auf den ESM hat der deutsche Bundestag nicht.
Beschluss von gestern Abend in Brüssel: Direkte Bankenfinanzierung
Matthias Garscha: Ich habe heute im Lauf der Bundestagsdebatte festgestellt, dass viele Abgeordneten gesagt haben, dass, wenn die Veränderungen, die gestern auf dem EU-Gipfel beschlossen worden sind – die heute ja für Irritationen gesorgt haben und in der ganzen deutschen Presse bewertet worden sind – wenn sie über den Gesetzestext hinaus gehen würden, in dem, was der ESM bedeutet für Deutschland, dass dann sofort zwingend eine Bundestagssitzung oder die ganzen Vorgänge im Bundestag stattfinden müssten. Würden Sie dem zustimmen, dass das dann zwangsläufig der Fall ist? Ich meine jetzt gerade bei der Ausgestaltung des ESM mit direkter Finanzierung der Banken, die Einrichtung einer Banken-Union mit einer sogenannten Aufsichtsbehörde, die erst noch in naher Zukunft gebildet werden soll. Das steht ja alles so nicht in dem Vertrag, der heute unterzeichnet werden soll.
Christian Heidfeld: Das Instrument der direkten Bankenfinanzierung ist im ESM bisher nicht vorgesehen. Im ESM-Vertrag gibt es allerdings den Artikel 19, wo drin steht, dass der Gouverneursrat die Liste der vorgesehenen Finanzierungsinstrumente überprüfen kann und beschließen kann, sie zu ändern. Somit kann der Gouverneursrat einstimmig, d.h. Deutschland muss zwingend zustimmen, ein weiteres Finanzierungsinstrument, also beispielsweise die direkte Bankenfinanzierung, in den ESM aufnehmen.
Tim Weber: Da möchte ich jetzt mal nachfragen: Wenn ich mir das Begleitgesetz angucke, Entwurf 17/4550: Das habe ich nicht gefunden, dass Artikel 19 eine Zustimmung des Bundestages oder auch nur eine Zustimmung des Haushaltsausschuss bedürfe. Ich kann Ihre Interpretation teilen, dass Artikel 19 das ermöglichen würde, aber ich kann nicht erkennen, dass hier der deutsche Bundestag bzw. der Haushaltsausschuss ein Mitbestimmungsrecht hätte und hier den Vertreter der Regierung binden könnte.
Matthias Garscha: Ich glaube, das war das Entscheidende, damit heute die Regierung ihre Regierungskoalition zusammenhalten konnte – diese Interpretation.
Christian Heidfeld: Im ESM-Finanzierungsgesetz habe ich es auch nicht gefunden. Es gibt aber zwei Zustimmungs- bzw. Begleitgesetze zum ESM: Es gibt erstens das ESM-Finanzierungsgesetz – dort sind u.a. umfangreiche Rechte Bundestages aufgezählt – und zweitens das Gesetz zur Errichtung des ESM (Drucksache 17/9045). Im letzteren steht im Artikel 2 Absatz 2 ausdrücklich, dass einem Beschlussvorschlag zur Änderung der Finanzierungsinstrumente nach Artikel 19 ESM-Vertrag der deutsche Gouverneur oder Direktor nur zustimmen darf, wenn er hierzu zuvor durch Bundesgesetz ermächtigt wurde. Also bedarf es auch hier einer Zustimmung des Bundestages.
Matthias Garscha: Herr Weber, wollen Sie noch mal erwidern oder können wir das erstmal so lassen?
Tim Weber: Nein, das hat mich überzeugt.
Matthias Garscha: Ok. Aber war heute für mich als nicht Jurist im Laufe des ganzen Tages, wo ich das alles begleitet habe, im Bundestag und in den Medien, die Schlüsselfrage heute. Dass die Kanzlerin es geschafft hat, die beiden Fraktionen hinter sich zu versammeln, und ist auch entscheidend für die Auslegung des Vertrages, nach meiner Meinung, weil ich denke, dass gestern etwas ganz Neues, was die Bundesregierung bisher so nicht wollte, in zwei Teilversionen in Brüssels ja jetzt verabschiedet worden ist. Nur deswegen meine kritische Hinterfragung.
Parlamentarische Kontrolle
Robert Arnold: Ich habe noch eine Frage direkt im Anschluss an Herrn Weber. Sie hatten gesagt, bei dem ESM gibt es keine direkte parlamentarische Kontrolle. Der ESM scheint mir mit dem Gouverneursrat so ähnlich gebaut zu sein wie der Ministerrat der EU. Sehen Sie bei dem Ministerrat der EU mehr parlamentarische Kontrolle oder sollte der ESM in diese Richtung umgestaltet werden, aus Ihrer Sicht?
Tim Weber: Das ist für mich ein generelles Problem der EU, dass die Exekutive des Nationalstaates dann zum entscheidenden Gesetzgeber auf EU Ebene wird und der ESM ist eben sehr exekutiv-lastig. Das halte ich für ein Problem.
Christian Heidfeld: Wenn ich vielleicht kurz darauf noch einwerfen dürfte: Ich sehe das mit dem demokratischen Zugriff des Parlamentes auf den ESM etwas anders und ich finde auch, der Bundestag hat beim ESM mehr parlamentarische Einflussmöglichkeit als beispielsweise im Ministerrat, denn wir müssen uns vergegenwärtigen, dass Entscheidungen im ESM durch den Gouverneursrat nur getroffen werden können, wenn Deutschland zustimmt. Wir brauchen dort nämlich eine qualifizierte Mehrheit oder eine Einstimmigkeit für Entscheidungen. Einstimmigkeit geht eh nur mit Deutschland, eine qualifizierte Mehrheit geht ab 80% der Stimmen. Deutschland verfügt über 27 % der Stimmen, d.h. jede Entscheidung ist nur mit Zustimmung des deutschen Vertreters machbar und der deutsche Vertreter darf nur zustimmen, wenn der Bundestag ihn vorher dazu durch Bundesgesetz ermächtigt hat. Somit hat der Bundestag – das mag für andere Parlamente anders aussehen – den direkten Zugriff auf Entscheidungen des ESM.
Tim Weber: Ich stimme dem zu und trotzdem habe ich zwei Aber:
- Das erste Aber haben Sie gerade eben schon angedeutet, also ich betrachte EU- Demokratie eben nicht nur aus bundesdeutscher Sicht, sondern: Was ist mit anderen Nationalstaaten, was ist mit anderen Parlamenten, die haben nämlich dieses Vetorecht nicht.
- Und der zweite Punkt ist: Formaljuristisch haben Sie völlig Recht. Das Begleitgesetz – würde ich auch sagen – ist ein gutes Gesetz und der Deutsche Bundestag hat hier sehr viel mehr Einfluss als es sonst bei EU Gesetzgebung oder EU Richtlinienkompetenz der Fall ist. Aber es gibt natürlich auch eine politisch-faktische Seite. Und wenn im ESM, im Gouverneursrat, im Direktorium, lange über Maßnahmen diskutiert worden ist und hat man eine Einstimmigkeit erzielt und dann kommt es zum Deutschen Bundestag, kann ich mir nicht vorstellen, dass wir auch nur einen Fall erleben werden, dass der Deutsche Bundestag von seinem Vetorecht Gebrauch machen wird. Das ist ja das was wir bei internationalen Verträgen und auch speziell bei der EU immer erleben: Es wird etwas ausgehandelt zwischen Regierungen und dann hat man eigentlich folgende Situation: Die politische Diskussion über Alternativen ist im deutschen Bundestag oder in anderen Parlamenten gar nicht mehr möglich: Sobald einer ausschert, hat man sozusagen das große Ganze in Gefahr gebracht und wir erleben immer diese Konformität, worin, glaube ich, auch ein Grund für dieses demokratische Unbehagen der Gesellschaft existiert.
Matthias Garscha: Das haben wir ja auch wieder erlebt, dass letztendlich nach den Fraktionssitzungen – gerade im Twitter konnte man das sehr oft sehen – wie dort gesagt wurde: wir haben ja keine Alternative. Trotz dieser neuen Gipfelergebnisse heute zustimmen zu müssen, weil die Lage einfach so ist. Aber dass wir eine ökonomische Diskussion, die wir mit Ihnen hier nicht führen können, aber ich sehe auch, dass dieser Sachzwang es unheimlich schwierig macht, diese formaljuristischen Möglichkeiten des Bundestages, die Herr Heidfeld beschrieben hat, aber in der Realität – wie Herr Weber sagt – fast nicht wirksam werden können, aufgrund der Sachzwänge auf der ökonomischen Ebene.
Tim Weber: Die ökonomische Ebene ist die eine Ebene. Aber es ist ja immer so, dass genau die gerne angeführt wird, um diese Alternativlosigkeit anzuführen. Letztendlich haben wir hier auch ein psychologisches Problem. Die Kanzlerin hat sich mit den anderen Regierungschefs nach der Nacht der langen Messer geeinigt, d.h. die Kanzlerin fühlt sich diesem Ergebnis verpflichtet. Das würde jedem von uns auch so gehen; also jeder, der mal in Verhandlungssituationen war, weiß, dass das so ist. Dann kommt es in den Deutschen Bundestag und dort gibt es ja durchaus kritische Stimmen in der Koalition, aber diese kritischen Stimmen dürfen eigentlich gar nicht zur Geltung kommen, weil es dann heißt: Die Regierung wird beschädigt, ganz Europa ist gefährdet.
Robert Arnold: Dazu habe ich noch eine Nachfrage: Ich habe versucht, mir dieses Urteil vom 19.6. ein bisschen anzugucken. Und ich war erstaunt, wie groß die Transparenzforderung des Bundesverfassungsgerichts ist. Habe ich das richtig verstanden, dass das Bundesverfassungsgericht _vor_ jedem Treffen fordert, dass der Bundestag bzw. eine entsprechender Ausschuss des Bundestages informiert wird, um was die Verhandlungen gehen sollen und unmittelbar _nach_ den Verhandlungen wieder unterrichtet werden soll, wie die Verhandlungen gelaufen sind. Ich weiß nicht, wer dazu etwas sagen kann?
Christian Heidfeld: Ohne das Urteil gerade vor mir liegen zu haben, ging es um die Auslegung des Artikels 23 insbesondere der Absätze 2 bis 7, wo im Grunde relativ detailliert beschrieben ist, was für Rechte der Bundestag hat und ja, die die Rechte sind sehr umfassend.
Tim Weber: Aber, Herr Heidfeld, dann wäre es doch sehr, sehr entscheidend, ob ein Vertrag – Fiskalvertrag oder ESM – eher Artikel 23 oder Artikel 59 zuzuordnen wäre.
Christian Heidfeld: Nach dem Grundgesetz – und dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden – ist jedenfalls der ESM eine Angelegenheit Europäischen Union. Entschieden wurde dies im Hinblick auf die Informationsrechte aus Artikel 23 GG. D.h. aber noch nicht, dass das Bundesverfassungsgericht damit entschieden hat, dass dadurch die Europäischen Verträge geändert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat nur festgestellt, dass innerstaatlich die Informationsrechte des Artikels 23 GG anzuwenden sind, auch wenn es eigentlich um einen völkerrechtlicher Vertrag geht.
Tim Weber: Ich finde, bei dieser Frage ist entscheidend – und sie klang auch schon an, ich bleibe jetzt mal bewusst beim ESM-Vertrag und blende den Fiskalvertrag noch aus – ob hier Hoheitsrechte übertragen werden oder nicht? Ich verstehe Herrn Mayer [Anmerkung des Transkribators: Prof. Franz Mayer, Universität Bielefeld und Chef von Dr. Heidfeld] so, dass er sagt: Es werden keine Hoheitsrechte übertragen und kann das ein Stück weit auch nachvollziehen, denn im Rahmen dieser Summe von 190 Milliarden € hat der Bundestag tatsächlich, was einen weiteren Schritt angeht, ein weitgehendes Mitspracherecht und nur weil Mehr Demokratie hier auch Volksabstimmung fordert, ist es noch lange nicht verfassungsrechtlich problematisch. Ich sehe aber zwei Punkte und möchte die als Frage an Herrn Heidfeld formulieren, weil ich da auch Verständnisprobleme habe:
- Es wird eine neue Institution geschaffen, nämlich der ESM mit einem doch sehr gewaltigen Volumen. Diese Institution wird geschaffen, damit sie Entscheidung trifft und eigene Kompetenzen hat. Das ist die Frage 1: Findet hier nicht doch eine Hoheitsübertragung statt?
- Und der zweite Punkt ist folgender: Bei dieser Haftungssumme von bis zu 190 Milliarden €, die durchaus fällig werden kann, ist unser Argument, ist der Haushalt des Deutschen Bundestages in so hohem Maße beeinträchtigt, dass dann andere Politikfelder wie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik leiden würden, dass sehr wohl sozusagen der Handlungsspielraum indirekt zwar, aber sehr wohl der Handlungsspielraum des Deutschen Bundestages und damit auch das Wahlrecht aus Artikel 38, Absatz 1 Grundgesetz beeinträchtigt werden.
Christian Heidfeld: Ich will in der Kürze auf beide Fragen eingehen:
Zur ersten Frage hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsrechten: Eine Übertragung von Hoheitsrechten liegt dann vor, wenn Deutschland Hoheitsrechte auf die Europäische Union mit Durchgriffswirkung überträgt. Das haben wir beim ESM nicht, beim Fiskalpakt auch nicht. Wir haben dort eine internationale Organisation geschaffen, für die aber die Mitgliedstaaten alleine bestimmen, was diese Organisation macht.
Zur zweiten Frage – und die ist spannend. Sie greift auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom September letzten Jahres auf, denn da hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass es eine quantitative Grenze der Übertragung von Gewährleistungsermächtigungen gibt. Es hat also gesagt, irgendwo kommen wir an eine Grenze, wo auch der Bundestags, auch wenn er jeder einzelnen Gewährleistungsermächtigung zustimmt, keine Gewährleistungen mehr geben darf, weil nämlich, wenn der Bundestag das machen würde, zukünftige Bundestage in ihrer Haushaltsverantwortung bebunden wären, wenn die Summe diese bestimmte Grenze überschreitet. Das Bundesverfassungsgericht hat aber diese Grenze bei den Gewährleistungsermächtigungen bezüglich der EFSF und den Griechenlandhilfen noch nicht als überschritten angesehen. Nach Aussagen einzelner Verfassungsrichter in den Medien sei diese Grenze so ungefähr bei einem Bundeshaushalt erreicht. Da liegen die 190 Mrd. Euro im Fall des ESM noch drunter. Und man muss bei alle dem auch die Auswahlwahrscheinlichkeit berücksichtigen.
Aber Sie sprechen dort einen wichtigen Punkt an. Es gibt sicherlich irgendwo eine Grenze, wo wir Gewährleistungsermächtigungen übernehmen, die dann wohl mit dem Demokratieprinzip und der daraus resultierenden Haushaltsverantwortung auch zukünftiger Bundestage nur noch schwer zu vereinbaren sind. Wenn wir etwa allumfassende Eurobonds zustimmen würden, würde Deutschland für 8000 – 9000 Mrd. Euro Staatsschulden eine gemeinschaftliche Haftung übernehmen, da hätten wir diese Grenze ganz sicher erreicht.
Robert Arnold: Das finde ich sehr interessant: Beide (Herr Heidfeld und Herr Weber) sehen, dass es irgendwo eine Grenze geben muss, der aktuelle Bundestag zukünftige Bundestage nicht zu sehr binden darf. Ich bitte jetzt AllenW, sein Frage zu stellen.
Haftung Deutschlands
AllenW: Es wird mit dem ESM eine Behörde geschaffen, die die tagtägliche Arbeit durch ein Direktorium und Angestellte durchführt. Der Gouverneursrat, also die Finanzminister der Euro-Länder, haben natürlich viel Macht, aber in das tagtägliche Geschäft, können sie nicht eingreifen. Das Direktorium genießt volle Immunität, kein Rechnungshof, kein Staatsanwalt kann je irgendetwas machen. Wenn das Direktorium beschließt: Wir brauchen die Garantien, die müssen eingezahlt werden, weil irgendwie was ist, haben die Nationalstaaten 7 Tage Zeit, Deutschland hat vielleicht seine 190 Mrd. parat, aber was ist mir Frankreich, Italien und Spanien, die zusammen etwa 34% des ESM garantieren müssen, wenn sie nicht innerhalb von 7 Tagen das Geldaufbringen können – was dann?
Christian Heidfeld: Sie zielen dort auf Artikel 9 ESM-Vertrag ab. Dieser Abruf des Kapitals kann immer nur dann erfolgen, wenn der ESM vorher irgendwelche Maßnahmen getroffen hat, also irgendwelche Kredite / Darlehen vergeben hat und es dann bei der Rückzahlung zu Problemen kommt. D.h. die einzelnen Mitgliedstaaten, in Deutschland dann auch der Bundestag, konnten vorher über diese Maßnahme schon abstimmen, so dass kein Mitgliedstaat überrascht werden wird, wenn plötzlich ein Kapitalabruf erfolgt.
AlanW: Das sehe ich nicht unbedingt so im Vertragswerk.
Tim Weber: Ja, ich bin an dieser Stelle auch etwas kritischer, aber ich muss auch zugeben: unsicher. Es ist schon so: Deutschland beschließt heute, also Bundestag und Bundesrat, erst mal diese 190 Milliarden Euro – das ist ja auch schon eine gewaltige Summe, wie wir vorhin erörtert haben. Der Bundestag hat immer sozusagen die Chance zu verhindern das diese Summe größer wird. § 9, Absatz 2, das Direktorium mit Mehrheit oder §9, Absatz 3, diese 7-Tageregelungen, wo der geschäftsführende Direktor innerhalb von 7 Tagen sagen kann: „Von dem Kapital, das ihr zugesagt habt, müsst ihr so und so viel überweisen“ würde sich immer innerhalb dieser 190 Milliarden Euro bewegen. Die Frage von AllenW war aber jetzt: Was passiert eigentlich, wenn ein Staat ausfällt (Frankreich, Italien und Spanien haben 50%)? Italien und Spanien (also Frankreich würde ich im Moment noch als stabil einschätzen) haben zusammen 30%. Da lese ich die Verträge auch so: dann müssen die anderen Partner ran. Herr Heidfeld hat Recht: das würde auch noch mal einen Beschluss des Deutschen Bundestages nach sich ziehen – ganz klar formaljuristisch völlig korrekt. Aber der Sachzwang wäre dann tatsächlich so groß, dass es eigentlich in meinen Augen keine andere Wahl gibt – also dann ist da wirklich so gut wie keine Alternative mehr – als zuzustimmen. Deswegen glaube ich schon dass AllanW Recht hat: Das Risiko ist, auf dem Papier zwar nicht, aber eigentlich ist es größer als diese 190 Milliarden Euro.
Matthias Garscha: Das war ja auch beim Haushaltsausschuss in der öffentlichen Sitzung bei den Ökonomen das Thema, die gesagt haben es ist nicht glaubwürdig, die Höhe die jetzt da mit dem ESM praktisch definiert wurde. Nicht nur die deutsche Haftungssumme, sondern die Insgesamthaftungssumme ist nicht glaubwürdig nach außen. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem, das die Ökonomen da genannt haben, das haben Sie gerade zusammen mit AllenW diskutiert.
Christian Heidfeld: Vielleicht in diesem Zusammenhang noch eine Ergänzung. Dieser Kapitalabruf innerhalb von 7 Tagen, der bezieht sich maximal auf die 190 Milliarden Euro für die Deutschland beim ESM insgesamt haftet. Diese maximale Haftungsumme erhöht sich auch nicht, wenn irgendein Mitgliedsstaat ausfällt. Das steht ganz explizit in Artikel 8 Absatz 5 ESM-Vertrag, wo es heißt: „Die Haftung eines jeden ESM-Mitglieds bleibt unter allen Umständen auf seinen Anteil am genehmigten Stammkapital begrenzt.“ Eine Erhöhung der Haftungssumme kann nur über eine Kapitalerhöhung erfolgen, wobei dort schon der ESM-Vertrag ausdrücklich vorsieht, dass dazu alle nationalen Parlamente zustimmen müssen.
Matthias Garscha: Vielen Dank, Herr Heidfeld. Ich möchte die nächste Frage an Arne übergeben.
Warum eine neue internationale Organisation?
Arne: Meine Frage ist: warum wurde überhaupt eine eigene Institution geschaffen? Warum hat man es nicht z.B. der EZB übertragen, die Aufgaben? Ich hatte mal bei einem größeren Projekt beim Bund festgestellt: Da geht's um alles, aber nicht um die Sache und habe festegestellt, dass ihnen Pöstchen of wichtiger als die Sache selbst ist. Worin besteht die Notwendigkeit, dass man eine eigene Institution schafft, mit diesen ganzen Rechten?
Christian Heidfeld: Eine Übertragung auf die EZB wäre nicht machbar; die EZB darf nämlich – das sagen die europäischen Verträge – keine Staaten finanzieren. Zumindest in Notsituationen macht aber der ESM genau das, indem er Staaten Darlehen gibt. Das darf die EZB nicht. Das steht in Artikel 123 AEUV explizit drin. Im Übrigen soll die EZB ja auch unabhängig sein und der ESM ist ein politisches Instrumentarium: Da bestimmen im Grunde die Mitgliedstaaten über ihre Parlamente, was gemacht wird.
Exkurs: Entstehung des Verbotes der Staatsfinanzierung für die EZB
Matthias Garscha: Es ist ein sehr interessanter Punkt, den wir hier jetzt berühren, weil: die Arbeitsgemeinschaft „Geldordnung“ hat sich schon sehr stark mit dem Artikel 123 im Lissabon-Vetrag beschäftigt. Ich möchte Herrn Tim Weber ganz kurz diese Exkursionen noch fortsetzen lassen: woher kommt der Artikel 123? Nach meiner Meinung ist er 1994 im Maastrichter Vertrag, im Vorgänger Vertrag, definiert worden. Eine Einschätzung, wenn es möglich ist, von einem der beiden, warum die Bundesregierung damals überhaupt diesen Passus, dass man nicht mehr eine direkte Finanzierung der Notenbanken zu den Regierungen haben möchte, warum es überhaupt in die Vertragstexte aufgenommen wurde?
Tim Weber: Sie meinen jetzt Artikel 125, die No-Bail-out-Klausel?
Matthias Garscha: Nein, ich meine Artikel 123 im Lissabon-Vertrag, den Herr Heidfeld eben genannt hat, der die direkte Finanzierung von der EZB zu den Regierungen nicht mehr erlaubt. Das hat er ja eben ausgeführt. Der Vorgänger von 123 ist im Maastricht-Vertrag schon definiert.
Tim Weber: Das sind geldpolitische Überlegungen, bei denen sich damals Deutschland durchgesetzt hat. Aufgrund der historischen Erfahrungen in Deutschland, also mit der Inflation, die man hatte, hat 1952 auch der Deutsche Bundestag freiwillig das Instrument der Geldpolitik an die deutsche Zentralbank übertragen. Da hat er ja auch freiwillig auf Souveränität zugunsten der deutschen Bundesbank verzichtet. Das müsste er ja gar nicht machen. Diese Überlegungen haben sich in den Maastricht-Verträgen wiedergefunden.
Matthias Garscha: weil wir sehen darin – in der Arbeitsgemeinschaft „Geldpolitik“ – eine ganz, ganz wichtige Restriktion, die uns unheimlich behindert und deswegen war es interessant die Frage von Arne. Wir sind eigentlich dafür, genau an dieser Stelle unsere politische Arbeit anzusetzen, dass der Artikel 123 abgeschafft wird. Aber das jetzt nur am Rande. Die nächste Frage geht an Benedikt Weihmyer.
Benedikt Weihmeyer: es wurde vorhin erwähnt, dass wenn die südlichen Länder ausfallen würden, dass dann Deutschland zahlen muss. Ich denke, soweit würde es mich kommen, denn die Möglichkeitsbild besteht immer noch von Hair-Cuts, von denen die Staatsverschuldung gestrichen wird zu einem gewissen Teil, so wie wir es in Griechenland gesehen haben. Außerdem ist eine Kreditlinie von der EZB an den ESM ermöglich, weil der Artikel 123, Absatz 2 AEU, offen lässt und nach dem ESM-Vertrag ist eine Lizenzierung als Bank nicht nötig, somit müsste nur der EZB-Rat zustimmen.
Matthias Garscha: Arne, Du hast noch eine Nachfrage dazu?
Arne: ja, bei dem jetztigen ESM-Vertrag müssen ja auch Gesetze geändert werden und Gesetze sind ja nicht in Stein gemeißelt, sondern können durch entsprechende Mehrheiten geändert werden. Die Frage ist, ich habe immer den Eindruck, die Inflationsgefahr und ist das womit immer nach Außen begründet wird. Ist der Artikel 123 nicht schlicht gute Lobbyarbeit des Bankensektors? Er schafft ein funktionsloses Einkommen über die indirekte Finanzierung oder über die Bankenfinanzierung der Staatsverschuldung; die Banken verdienen Geld, was eigentlich den Staaten, die ganzen Zinsen würden ja an die Staaten zurückfließen, wenn die Finanzierung direkt über die EZB gehen würde. Aus geldpolitischer Sicht, d.h. die Geldmenge wird genauso erhöht, ob sie jetzt direkt über die EZB…
Robert Arnold: Arne, kommt noch eine rechtliche Frage? Wir haben ja heute das rechtliche Podium.
Matthias Garscha: Aber, Robert, der Artikel 123 ist auch für unsere beiden Juristen hier insofern interessant: Tim Weber hat erklärt, wie er hineingekommen ist, hat einen kurzen historischen Abriss gemacht, Herr Heidfeld hat betont Artikel 123 Lissabon-Vertrag verhindert das, macht ESM zwingend notwendig als Konstrukt und insofern war die Frage von Arne hier berechtigt, weil die AG „Geldordnung“ hat – wie gesagt – da genau den politischen Ansatz, hier so ein Konstrukt wie den ESM evtl. sogar überflüssig zu machen. Das nur als Erklärung.
Tim Weber: Ich möchte es auch gern noch politisch bewerten. Das eine ist die ökonomische Sichtweise und natürlich kann man das sehr wohl anders sehen. Das ist genau das, was ich vorhin meinte. In der Krise sagt man dann – und da hat Herr Heidfeld völlig recht – dieser Weg war verschlossen wegen Artikel 123. Und dann heißt es, das sei alternativlos. Aber das ist interessant. Man hat Artikel 136, Absatz 3 eingeführt wegen der No-Bail-out-Klausel in Artikel 125, aber diese Frage: Ist es überhaupt richtig, dass die EZB das nicht darf, die wurde gar nicht diskutiert und das ist das was ich am Anfang meinte: Wir haben ein sehr, sehr hohes Tempo, bei dem uns immer gesagt wird: das ist die Lösung, die ist alternativlos und dann wird's gemacht aufgrund ähnlicher Sachzwänge. Diese Debatte, diese Nachfrage hat gezeigt: Es gibt sehr wohl Alternativen
Matthias Garscha: Sehr schön. Das sehe ich genauso, Herr Weber.
Christian Heidfeld: Wenn ich vielleicht auch etwas zum Artikel 123 – jetzt weniger aus juristischer Perspektive, sondern aus wirtschaftlicher Sicht – sagen dürfte: Artikel 123 AEUV hat meines Erachtens auch eine Funktion, die auch ganz bewusst so gewählt wurde: Denn läuft die Staatsfinanzierung über die EZB hätten die Mitgliedstaaten wieder sehr viel billiges Geld zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten könnten sich sehr günstig, meines Erachtens vielleicht sogar zu günstig, über die EZB finanzieren, was dazu führt, dass die Staatsverschuldung wahrscheinlich zunehmen würde. Ein gewisser Disziplinierungseffekt über die Märkte durch steigende Zinsen ist nicht immer ganz falsch, um ein Signal zu senden, dass man seine Staatsfinanzen in den Griff bekommen muss.
Matthias Garscha: Herr Heidfeld, vielen Dank für diese Bemerkung. Dieser Einschätzung Ihrer persönlichen Meinung und nicht als Experte. Es ist richtig, dass die Europäer sich diese Selbstbeschränkung auferlegt haben, die anderen großen Wirtschaftsmächte, ich sehe England, Amerika, Japan jedoch nicht. Die machen nämlich genau das, was wir uns mit Artikel 123 selbst verboten haben. Das ist doch augenfällig.
Robert Arnold: Ich möchte jetzt diese Diskussion an dieser Stelle abwürgen. Wir haben jetzt nicht Experten zu wirtschaftlichen Fragen auf dem Podium; das werden wir das nächste Mal haben, mit dem Chef des EFSF dabei. Ich glaube, da kriegen wir sehr gute Experten, die genau zu diesen Fragen uns auch Antworten geben können. Ich würde gerne jetzt noch mal AllenW zu Worte kommen lassen und danach würde ich gerne noch mal mir erklären lassen, was das Ganze mit der Immunität auf sich hat. Erstmal AllenW bitte.
AllanW: Darf ich einen ganz bösen Verdacht aussprechen: Erinnern Sie sich etwa vor 1-2 Jahren als es noch viel chaotischer war, die Diskussion über Leerverkäufe. Man hat eingesehen, dass die Macht der Finanzmärkte auf Hebelwirkung beruht. Ist nicht dieser ESM – so wie ich den Vertrag verstehe – genau so aufgebaut wie ein Hedge-Fonds? Sollte nicht diese Behörde mit all seiner Immunität genau so agieren und genau so risikoreich mit Hebelwirkung und, und, und. Man hat die Hebelwirkung diskutiert mit der EZB und gesagt: oo, nein, so etwas kann man nicht machen. Seriöse Leute kann das nicht machen. Deshalb hat man eben den ESM. Da habe ich ganz, ganz böse Bedenken.
Robert Arnold: Mir scheint dies wieder eine wirtschaftliche Frage zu sein – und ich glaube, diese wirtschaftliche Frage ist auch sehr, sehr wichtig. Aber ich glaube, da haben wir demnächst bessere Experten für.
Tim Weber: Ich möchte dazu etwas sagen. Ich freue mich, dass ich hier als Fachmann angesprochen werde. Aber letztlich äußere ich auch persönliche Meinungen, die besser oder schlechter begründet sind. Ich wäre auch sehr dafür, wie Robert Arnold sagt, dass wir hier die juristische und politische Sache betrachten. Aber natürlich spielen diese Einschätzungen eine ganz große Rolle auch vor dem Bundesverfassungsgericht. Bei der Vorbereitung unserer Verfassungsbeschwerde hatten wir hier auch den größten Bedarf, Dinge einschätzen zu können. Was wir vorhin z.B. hatten: Wie groß ist das Risiko, dass es bei den 190 Milliarden Euro bleibt, obwohl der Bundestag formaljuristisch das immer verhindern kann. Es ist natürlich eine wichtige Einschätzung, um es dann auch verfassungsrechtlich zu bewerten. Verfassungsrecht ist zwar sehr abstrakt, aber es hat auch was mit der Wirklichkeit zu tun. D.h. letztendlich haben wir hier eine Überschneidung.
Matthias Garscha: Deswegen ist auch im Haushaltausschuss zwei Stunden für die Ökonomen vorgesehen gewesen und zwei Stunden für die Verfassungsrechtler. Genau aus diesem Grund, Herr Weber. Die Ökonomen haben dieser Diskussion ganz klar zum Ausdruck gebracht, zwei Professoren aus dem Sachverständigenrat, es ist keine glaubwürdige Abschreckung für die Märkte durch den ESM gegeben. Das war im Prinzip die Quintessenz und des Sachverständigenrats bzw. der zwei Teilnehmer, die dort gesessen haben.
Christian Heidfeld: Aus juristischer Perspektive und damit auch für die Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht spielen diese ökonomischen Kritikpunkte – und das hat sehr gut die mündliche Verhandlung zu den Griechenlandhilfen gezeigt – kaum eine Rolle. Dort war im Übrigen folgendes zu beobachten: Die damaligen Beschwerdeführer, die Gruppe um Herrn Prof. Starbatty, hatten Herrn Professor Sinn als Experten mit und haben immer wieder versucht, ihn ins Spiel zu bringen und ökonomisch zu argumentieren. Mir ist in diesem Zusammenhang ein Satz von Herrn Prof. Voßkuhle, dem Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts, immer noch sehr gut in Erinnerung: Bringen Sie mir den rechtlichen Ansatz. D.h. für die verfassungsrechtliche Diskussion und damit auch für die Klagen, die jetzt kommen werden, spielt der rechtliche Ansatz die tragende Rolle.
Immunität (1/3)
Robert Arnold: Ich glaube, die Frage notieren wir uns und stellen sie dem Chef des EFSF, Klaus Regling in Kürze. Ich würde dann gerne mir noch mal erklären lassen, was das mit den Immunitätsregeln auf sich hat, die zu Gunsten des ESM gelten.
Tim Weber: Ich kann’s Ihnen nicht erklären, ich kann nur eine Vermutung äußern. Wenn man sich den Vertrag durchliest, ist es ja ein bisschen unheimlich. Also so geht es mir da. Warum sind die eigentlich alle immun, nur der Gouverneursrat kann diese Immunität aufheben. Eine Vermutung ist, was vorne in der Frage auch von AllenW anklang, es wird hier zu sehr riskanten Operation kommen _müssen_. Man wird Ankäufe machen müssen, sowohl auf dem Primär- als auch auf dem Sekundärmarkt, wo Haftungsfragen schwierig sind. Man möchte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die solche Entscheidung treffen, sozusagenm damit man die überhaupt findet, möchte man sie von vornherein entlasten.
Christian Heidfeld: Diese Immunitätsklauseln, die wir auch im ESM-Vertrag finden, sind auf völkerrechtlicher Ebene an sich nichts Besonderes. Solche Klauseln finden sich etwa auch in den Europäischen Verträgen. Dort gibt es ein Protokoll, auf das in Artikel 343 AEUV verwiesen wird. Auch in der UN-Charta gibt es Immunitätsklauseln. Diese dienen im Grunde der Funktionsfähigkeit von völkerrechtlichen bzw. europäischen Institution. Denn ohne solche Klauseln könnte versucht werden Druck auf Mitarbeiter dieser Institutionen aufzubauen, indem ihnen mit strafrechtlicher Verfolgung gedroht wird. Man müsste sich zudem auch beim ESM fragen, welcher Strafgewalt eigentlich dessen Mitarbeiter unterliegen würden? Im Fall der Europäischen Union könnte man dieses Problem vielleicht dadurch lösen, indem man eine unabhängige europäische Strafverfolgungsbehörde schaffen würde. Dann bräuchte man Immunität zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit wohl nicht.
Sicherung gegen Lobby-Interessen
Matthias Garscha: Ich meine, an diese Frage, Robert, schließt die Frage c) aus dem Fragepad direkt an: Welche Sicherung gibt es dagegen, dass Personen, die für den ESM arbeiten, keine Lobbyinteressen verfolgen können? – Eine relativ offene Frage, die wahrscheinlich gar nicht einfach zu beantworten ist.
Tim Weber: Ja, sie ist nicht einfach zu beantworten. Natürlich gibt es bei solchen Institutionen Lobby-Interessen, hier vor allen Dingen von der Finanzindustrie, die versuchen wird Entscheidungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Das haben wir tatsächlich aber auch genauso in der Bundesregierung. Das ist kein spezielles Merkmal des ESM.
Matthias Garscha: Wer hat denn den ESM eigentlich geschrieben? Da gibt es Vermutungen, dass es gewisse Anwaltskanzleien internationaler Ebene gewesen sind.
Tim Weber: Ich kenne diese Vermutungen, aber bei mir ist es auch nur eine Vermutung. Wir haben auch schon herrumgefragt, sogar bei Anwaltskanzleien. Sie haben bisher immer gesagt: Nein wir waren’s nicht.
Matthias Garscha: ok, ich hatte Sie unterbrochen.
Tim Weber: Das einzige, was mich sozusagen etwas beruhigt bei der ESM-Institution ist dieser Prüfungsausschuss und dieser Prüfungsbericht. Ich begrüße, dass dieser auch den Rechnungshöfen und den nationalen Parlamenten zur Verfügung gestellt wird. Mir reicht es nicht an Transparenz, aber das ist zumindest ein Punkt, wo ich glaube, dass man eine Chance hat, Machenschaften, sofern sie denn stattgefunden haben, im Nachhinein zumindest aufzudecken.
Exkurs: Rechtsform des ESM
Matthias Garscha: Können Sie mir beide noch etwas sagen über die Rechtsform des ESM? Nach welchem Recht ist er gestaltet? – Wo ist er angesiedelt? Haben Sie da ein Expertenwissen?
Tim Weber: Ich kann das nicht sagen, nein.
Christian Heidfeld: Während bei der EFSF noch eine zivilrechtliche Gesellschaft geschaffen wurde, ist der ESM durch einen völkerrechtlichen Vertrag begründet worden. D.h. es wurde eine eigene völkerrechtliche Institution geschaffen, anders als bei der EFSF.
Fortsetzung: Lobby-Interessen
Robert Arnold: Herr Weber, mich würde interessieren: Sie sagten: die Transparenz reiche Ihnen nicht aus. Können Sie sagen, was denn fehlt? – Was müsste dazu kommen?
Tim Weber: Ich würde mir z.B. zumindest wünschen, dass auch das Europäische Parlament, die Möglichkeit hat, an Sitzungen des Gouverneursrats und an Sitzungen des Direktoriums teilzunehmen. Ich würde mir im Grunde auch stärkere Berichtspflichten wünschen, sozusagen nicht nur von dem Vertreter, das ist ja gegenüber dem Deutschen Bundestag geregelt, sondern auch von dem geschäftsführenden Direktor. Man muss aufpassen, man darf das nicht übertreiben: wenn sie immer nur berichten, dann kommen sie nicht zur Arbeit – aber ich erlebe das so, wie ich die Verträge verstehe, doch als eine sehr geschlossene Veranstaltung. Das wird ja immer damit begründet: Das sind immer ganz heikle Entscheidungen und wenn das dann öffentlich wird, und die Märkte kriegen das mit, dann ist das kaputt, das Geschäft, dass man vorhat. Man sieht jetzt aber am deutschen Begleitgesetz, wo das in Paragraph 6 mit dem Sondergremium auf Ankäufe im Sekundärmarkt beschränkt wird. Man kann da sehr wohl differenzieren, was vertraulich behandelt werden muss und was nicht.
Robert Arnold: Vielen Dank Herr Weber, ich finde, das ist ein sehr guter Vorschlag. Ich würde jetzt sagen, dass wir noch mal die Fragen vom Saalmikrofon nehmen. Da wäre als erstes Piratos.
Immunität (2/3)
Piratos: Meine Frage geht direkt an Dr. Heidfeld zu den Immunitätsklausuren im ESM. Können Sie uns erklären, wie die im Vergleich zum IWF aussehen? Haben Sie da Kenntnisse? Und wo liegen da die Unterschiede welche sind strenger?
Christian Heidfeld: Wie gesagt: Diese Immunitätsklauseln basieren weitestgehend auf dem Vorbild, was wir in der UN-Charta haben, dort Artikel 105 UN-Charta. Ohne explizit die IWF-Klausueln zu kennen, gehe ich davon aus, dass sich diese auch daran orientieren.
Arne: Meine Bedenken gehen auch noch mal gegen die Immunität. Ich kann mir vorstellen, im Rahmen der UN, dass es Staaten gibt, in denen die Rechtsordnung nicht so gilt, nicht so ein Niveau hat wie bei uns. Aber es ist nicht im Grunde genommen ein Armutszeugnis für die europäische Rechtsordnung, wenn wir hier gewissermaßen sagen: Wir brauchen die Immunität für die Organisationen, weil sie ist sonst von bestimmten Staaten erpresst werden können? – und dass wir keine eigenen Möglichkeiten haben, im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft dieses Problem zu lösen? Wie will man jemand zwingen, sich an Recht und Gesetz zu erhalten, wenn sein Handeln durch Immunität geschützt ist?
Christian Heidfeld: Den Vorschlag, die strafrechtliche Verfolgung der Mitarbeiter des ESM auf Europäischer Ebene zuregeln, finde ich auf den ersten Blick sympathisch. Wir hätten aber gleich wieder ein Problem, denn das wäre eine Übertragung von Hoheitsrechten. Wir sollten aber zudem bei den Immunitätsregeln eins nicht vergessen: Das ist ein Grundsatz, der die Ausnahme hat, dass sie aufgehoben werden kann.
Tim Weber: Ein Punkt noch, dann würde ich persönlich den Punkt der Immunität gern verlassen. Mein Vorschlag wäre, das am Sitz der Institution zu machen, also in diesem Fall in Luxemburg. Herr Heidfeld hat das Problem angesprochen: Könnte Luxemburg das dann nicht nutzen, um politisch Druck auf Mitarbeiter auszuüben, um auch Entscheidungendes ESM zu beeinflussen? Ich glaube, dass die Einbettung Luxemburgs in der Europäische Gemeinschaft bzw. Europäischen Union genau das verhindern würde.
Direkte Bankenfinanzierung durch den ESM
Robert Arnold: Matthias, möchtest Du eine Frage aus dem Pad vorlesen?
Matthias Garscha: Moment bitte. Ich habe mehrere Fragen gesichtet, gerade, die ich meine, die hätten wir schon durchgesprochen. Ich wäre jetzt bei Frage h): Wie kann der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland durch den vorliegenden ESM-Vertrag garantiert werden, dass der ESM nicht die Funktion einer Bad-Bank für die Private Finanzindustrie übernehmen wird? Die Frage schließt sich natürlich direkt an dieser Übereinkunft letzter Nacht an, weil jetzt ja der ESM zum ersten Mal vorgesehen wird, nicht die Staaten mit Liquidität auszustatten, sondern Banken direkt. Wie das ausgestaltet werden soll, werden wir wahrscheinlich alle nicht direkt beantworten können. Dennoch mal die Frage, ob es da eine Vermutung geben könnte.
Christian Heidfeld: Soll der ESM auch die Funktion bekommen, direkt Banken zu finanzieren, bräuchten wir nach Artikel 19 ESM-Vertrag einen einstimmigen Beschluss des Gouverneursrates, dass es dieses Instrument geben soll. Dem muss der Deutsche Bundestag vorher zustimmen. Damit hat die Bevölkerung die Einflussmöglichkeiten auf den Deutschen Bundestag, wie sie es auch bei jeder anderen Entscheidung des Bundestages hat.
Matthias Garscha: vielen Dank.
Volksabstimmung geboten?
Tim Weber: Ich würde gern noch mal auf die verfassungsrechtliche Frage eingehen: Ist denn nun eine Volksabstimmung geboten oder nicht? Politisch habe ich schon deutlich gemacht: ich fände es richtig, wenn über diesen ESM-Vertrag und Fiskalvertrag eine Volksabstimmung stattfinden würde, aber das ist eine politische Einschätzung. Ich meine, es gibt auch eine verfassungsrechtliche Begründung.
Matthias Garscha: Die können Sie gleich erläutern. Davor möchte ich einen Beitrag von Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung ganz kurz in Spiel bringen, der von wenigen Tagen für mich, und für alle hier, einen sehr überraschenden Artikel verfasst hat, nämlich über den Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetz’, dass die ganze Staategewalt vom Volke ausgeht über Wahlen und Abstimmungen. Ich weiß nicht, ob sie beide diesen Artikel mitbekommen haben, aber uns hat dann gewundert, seine ganze Argumentation, dass das Wort „Abstimmugen“ nach seiner Meinung 60 Jahre unter Quarantäne gehalten worden ist. Mit allerlei Interpretation, die Sie uns bestimm gleich sagen werden können, aber für uns, die wir alle groß geworden sind mit dem Bewusstsein, Volksabstimmung und direkte Demokratie sind durch das Grundgesetz nicht abgedeckt, war das doch eine Überraschung, dass ein Chefredakteur der Süddeutschen vor zwei Tagen so einen Artikel verfasst hat. Das führt vielleicht als Frage direkt zu Ihnen, Herr Weber.
Tim Weber: Da muss ich jetzt echt aufpassen, dass ich nicht zu lang aushole. Herr Heidfeld könnte sicher auch viel dazu sagen. Herr Prantl selbst bezieht sich übrigens auf einen Aufsatz von Hans Meyer, Staatsrechtler. In Artikel 20, Absatz 2, „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, wird vom Volke durch Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe usw. ausgeübt“ hat das Wort „Abstimmung“ lange Zeit ein Schattendasein geführt und man hat behauptet, das Wort Abstimmung beziehe sich eigentlich auf die Artikel 29 GG, 118 und 118a, die jeweils Neugliederungen regeln. In diesen drei Artikeln wird aber immer nur ein Teil des Staatsvolkes tätig und nicht das gesamte Staatsvolk. In den letzten 10 bis 15 Jahren hat sich zunehmend mehr die Interpretation durchgesetzt, man könnte, Volksabstimmungen im Grundgesetz einführen Artikel 20, Absatz 2, redet hier von „Wahlen und Abstimmungen“. Im Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die mögliche Einführung bundesweiter Volksabstimmungen erwähnt. Hier gibt es jetzt nun zwei Annahmen:
- Die eine Annahme sagt: das könnte man einfachgesetzlich machen. Wir haben Artikel 38, dort werden die Wahlen nur erwähnt, aber ist es ja schon so, dass es dann ein Wahlgesetz gibt, dass die Ausführungsbestimmungen enthält. Die Abstimmung ist im Grundgesetz erwähnt; wir können durch ein einfaches Gesetz Volksbegehren und Volksentscheid einführen.
- Die andere Sichtweise, im Moment überwiegend, sagt: Wenn wir Volksbegehren und Volksentscheid einführen, dann müsste das im Grundgesetz geschehen.
Matthias Garscha: Vielen Dank. Herr Heidfeld, wollen Sie auch noch was dazu sagen?
Christian Heidfeld: Ja. Das Grundgesetz lässt es zu, dass man eine Volksabstimmung einführen kann, aber sie müsste dann auch in der Verfassung stehen. Denn das Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung hat sich für eine parlamentarischen Demokratie, eine repräsentativen Demokratie durch Wahlen, entschieden und lässt Abstimmung nur an ganz wenigen Stellen, etwa bei der Vereinigung von Ländern zu. Das GG lässt es aber durchaus zu, auch im Rahmen des europäischen Kontextes eine Volksabstimmung einzuführen, wenn das Grundgesetz geändert wird. Das geht mit Zweidrittelmehrheit und auch die Ewigkeitsklausel des Artikel 79 Absatz 3 würde dem nicht entgegenstehen, denn Artikel 20 Absatz 2 enthält ja explizit den Passus „Abstimmungen“. Aber eine Volksabstimmung über den ESM ist mit dem Grundgesetz in seiner aktuellen Fassung nicht machbar, dafür müsste man, wie gesagt, dass GG ändern.
Tim Weber: Ich habe nur die Position von Herrn Prantl referiert. Ich selber sehe es auch so, dass Volksbegehren und Volksabstimmungen im Grundgesetz verankert werden müssten.
Matthias Garscha: Halten wir es mal kurz fest: Die Mehrheitsmeinung sagt: Es müsste eine Grundgesetzverankerung geben, wie von beiden Seiten hier gesagt, d.h. eine 2/3-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat wäre erforderlich. Es gibt aber auch eine Minderheitsmeinung, unter anderen vertreten von Herrn Prantl, die sagt: Es ist wie das Wahlgesetz mit einer einfachen Mehrheit etablierbar, weil es in Artikel 20, Absatz 2 Grundgesetz definiert werde. Sehe ich das so richtig?
Tim Weber: Ja.
Matthias Garscha: Dann übergebe ich wieder an Robert für die nächste Frage.
Tim Weber: Eins noch: Die Frage, die Sie angesprochen haben, da geht es um die Einführung der Volksgesetzgebung oder eben, was Herr Heidfeld angesprochen hat, um ein Referendum bei der Übertragung von Hoheitsrechten nach Artikel 23. Unsere Behauptung ist die, dass ein Grad an Hoheitsübertragungen erreicht worden ist, dass er nur noch über Volksabstimmung möglich ist, obwohl es im Wortlaut - da gebe ich Herrn Heidfeld Recht - im Grundgesetz so nicht erwähnt ist.
Matthias Garscha: Aber was ist in dem Paragraph 146, der immer zitiert wird, der jetzt auch zwangsläufig greifen müsste, wenn Karlsruhe ESM/Fiskalpkat-Gesetz nicht passieren lassen würde?
Tim Weber: Der Paragraph 146 spielt eine große Rolle, allerdings auch er erwähnt die Volksabstimmung nicht ausdrücklich. Darauf berufen sich ja auch Herr Mayer und Herr Heidfeld. Wie gesagt, was den Wortlaut angeht, kann ich nicht widersprechen, weil es offensichtlich richtig ist. Es ist so, dass seit den Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts folgende juristische Figur angewendet wird: In Artikel 38, Absatz 1, wird das Wahlrecht geregelt und jede Wählerin, jeder Wähler hat den Anspruch, einen Bundestag zu wählen, der genügend Gestaltungsspielraum hat, um maßgebliche Entscheidungen zu treffen. Es wird dann von einer „roten Linie“ geredet, seit der Maastricht-Entscheidung. Aber das Bundesverfassungsgericht hat die rote Linie immer weiter nach hinten geschoben. Wenn sie überschritten wird, dann erlaubt das Grundgesetz eine weitere Integration nicht. Jetzt ist eine Interpretation: Wir haben den Artikel 20, Absatz 2, in dem das Wort „Abstimmung“ drin steht. Was macht es dort eigentlich? Es macht in Verbindung mit Artikel 146 den Sinn, dass wenn man sich eine neue Verfassung geben müsste, dann das nur per Volksabstimmung gehen kann und weil durch die zunehmende EU-Integration immer weniger Entscheidungen auf der Bundestagsebene sind, aber immer mehr Entscheidung bei den EU-Organen, ist hier eine Verfassungsneugebung geboten, und es ist eine Volksabstimmung nötig.
Robert Arnold: Ich würde dann eine Frage an Saalmikrofon geben. Reinhard_HB wäre dran.
Reinhard_HB: Eine Frage an Herrn Heidfeld. Sie bezieht sich direkt auf die Stellungnahme von Herrn Professor Mayer, ihr habe ich entnommen: die Unbefristetheit des ESM sei unproblematisch, da die Maßnahmen nur temporär seien. Das habe ich nicht ganz verstanden, was ist mit „temporär“ an dieser Stelle gemeint?
Christian Heidfeld: Mit „temporären Maßnahmen“ ist gemeint, dass die einzelnen Darlehen oder Hilfsmaßnahmen, die der ESM unter Umständen vergibt, immer zeitlich befristet sind. Nehmen wir mal an, Spanien geht als Staat unter den ESM und irgendwann im nächsten Jahr würde als Hilfsmaßnahme ein Darlehen von beispielsweise 20 Milliarden Euro an Spanien gewährt. Dann enthielte diese Maßnahme schon die Bedingung, bis wann Spanien dieses Geld zurückzuzahlen hat. Das ist damit gemeint, dass diese Maßnahmen temporär sind, während der Rettungsschirm an sich natürlich dauerhaft ist.
Reinhard_HB: Habe ich verstanden, danke.
Arne: Ich möchte noch mal auf Artikel 20 zurück kommen, und zwar aus Absatz 2: alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und _Abstimmungen_… Was ist da nicht zu verstehen, dass hier mit „Abstimmungen“ nicht Volksabstimmung gemeint sind?
Tim Weber: Bei den Verhandlungen im Parlamentarischen Rat zum Grundgesetz gab es Anträge dieses Wort „Abstimmungen“ zu streichen und das wurde abgelehnt u.a. mit der Begründung, dass dann Volksabstimmung nicht mehr möglich wären, so dass die Vermutung sehr nahe liegt, das mit dem Wort „Abstimmungen“ tatsächlich Volksabstimmungen gemeint sind. Man muss aber einräumen: Es gab auch Anträge z.B. das obligatorische Referendum ins Grundgesetz einzufügen und auch da hat sich damals keine Mehrheit gefunden, so dass unsere Sichtweise folgende ist. Es ist hier ein Auftrag oder eine Möglichkeit (wie Herr Heidfeld gesagt hat) drin, die angelegt ist, aber es wurde bis heute nicht ausgefüllt. Politisch sage ich: Das ist ein unerfüllter Auftrag des Grundgesetzes.
Matthias Garscha: Bevor Sie gleich Antworten können, Herr Heidfeld: Ich denke, historisch ist es nachvollziehbar, warum es damals so gelaufen ist nach den Erfahrungen des Dritten Reiches im Vorfeld, auch des Reichspräsidenten Hindenburg mit der Notgesetzgebung und der direkten Wahl des Reichspräsidenten, hat man im Parlamentarischen Rat und damit im Grundgesetz verhindern wollen, dass ein Volk wieder – auf gut Deutsch – eine dumme Wahl trifft und wieder jemand falsches an die Spitze kommt. Man hat dafür Vorkehrungen getroffen und sich für die repräsentative Demokratie entschieden. So wurden wir das ja auch gelehrt an den Schulen, an den Universitäten. Wir alle sind immer davon ausgegangen, es wäre nicht möglich. Deswegen noch mal dieser Überraschungseffekt jetzt durch dieses Vorpreschen von Prantl und anderen, dass jetzt auf einmal das nicht mehr so in Stein gemeißelt ist. Das ist ja der breiten Bevölkerung so einfach gar nicht bekannt.
Tim Weber: Ich möchte Ihrer Interpretation widersprechen. Das wird so gelehrt, das ist tatsächlich der Fall, wobei in neueren Schulbüchern wird es mittlerweile differenzierter dargestellt, zum Glück. Wenn es so wäre, dann wäre es sehr merkwürdig, dass es Länderverfassungen gibt - nämlich z.B. die Bayerische von 1946, die Hessische oder auch die Bremische alle von 1946/47 –, die immer Volksgesetzgebung geregelt haben. D.h., wenn die Angst aufgrund der nationalsozialistischen Erfahrung so groß gewesen wäre, stellt sich die Frage: Warum hat man es in diesen Länderverfassungen dann reingeschrieben? Es gibt eine andere Interpretation von Otmar Jung, die ist auch nicht zwingend, aber sie wird sehr plausibel dargelegt, dass mit 1948, mit Entstehen des Kalten Krieges und mit Ausnutzung dieses Instrumentes der SED, z.B. in Sachsen, dort gab es Volksbegehren „Enteignung von Naziverbrechern“, dort wurde es sehr populistisch genutzt. Dass im Zuge des Kalten Krieges die Angst war, dass dieses Instrument von falscher Seite missbraucht werden könnte und dass man deswegen vorsichtiger agiert hat.
Matthias Garscha: Das finde ich sehr interessant. Herr Heidfeld, haben Sie noch einen Kommentar dazu?
Christian Heidfeld: Ja. Ich würde mich da eher der ersten Meinung anschließen. Um noch mal auf den Vorschlag von Herrn Prantl zurückzukommen: Das Grundgesetz lässt – dem stimme ich zu – Volksabstimmungen zu, wenn sie ins Grundgesetz aufgenommen werden. Das wäre nicht möglich, wenn in Artikel 20 GG, der wegen Artikel 79 Absatz 3 GG nicht änderbar ist, die Abstimmung nicht enthalten wären. Wenn man sich das Grundgesetz in seiner Gesamtheit anschaut, hat man in der jetzigen Fassung des Grundgesetzes aber für alle wesentlichen Entscheidungen Verfahren normiert, die keine Volksabstimmung vorsehen.
Matthias Garscha: Vielen Dank, Herr Heidfeld. Eine Frage zum Saalmikrofon, Benedikt bitte.
Warum spielt der IWF im ESM-Vertrag so eine wichtige Rolle?
Benedikt.Weihmeyer: Ich wollte zu etwas anderem kommen. Im ESM-Vertrag wird der IWF häufig erwähnt. Wie erklären Sie sich, dass der IWF in dieser Rolle benötigt wird? Soll nicht der ESM auch ein gewisser Weise als europäisches Konstrukt den IWF in diesem Falle ersetzen?
Christian Heidfeld: Wahrscheinlich eine ganz einfache Antwort: Der IWF verfügt auch über Geld und das macht man sich zu Nutze. Beispielsweise umfasste der erste temporäre Rettungsschirm, der zum einen aus der EFSF und dem Beitrag der Europäischen Union in Form der EFSM bestand, auch zusätzliche Garantien in Höhe von 250 Milliarden von Seiten des IWFs.
Matthias Garscha: Ich habe da auch eine Interpolation dazu. Ich glaube, die deutsche Regierung hat eine nicht den EU-Institutionen vertraut, diese Bedingungen, die notwendig sind, um die Empfängerländer zu Sparmaßnahmen auch tatsächlich durchzusetzen. Auch deswegen wahrscheinlich den mit reingeholt, weil er das seit Jahrzehnten macht und zwar mit einer gewissen Härte und Stringenz verfolgen und aus deutscher Sicht war zu diesem Zeitpunkt, glaube ich, wünschenswert, weil wir ja nicht die Südländer praktisch über einen Bail-out hinaus wollten. Das müsste auch noch ein Grund, warum man den IWF mit hineingeholt hat. Ich sehe es aus europäischer Sicht zu einem gewissen Maße auch als eine schwierige Sache, dass der IWF nach Europa geholt worden ist, weil da eine substanzielle Einmischung von anderen Interessen möglich geworden ist.
Tim Weber: Positiv könnte man es auch als Willen zur Kooperation interpretieren. Aber es ist schon auffällig, dass der ESM dem IWF in hohem Maße nachgebaut ist. Auch mit diesen 85%-Mehrheiten und werdie Sperrminorität hat . Noch mal, entschuldigen Sie Herr Arnold, ein wirtschaftspolitischer Ausflug: Was schon interessant ist: In der Krise 2008, aus der Deutschland sehr gut herausgekommen ist, hat Deutschland nicht die Maßnahmen ergriffen, die man zum Beispiel Griechenland empfiehlt oder auch im Fiskal-Vertrag festschreiben will. Sondern man hat eine Mischung gemacht und gesagt: Die Einlagen sind sicher. Das hätte man wahrscheinlich gar nicht zusagen können, aber man hat es mal gesagt - und man hat auch über Arbeitsmarktpolitik und über Investitionsprogramme versucht, die Wirtschaft anzukurbeln. Dieser Prozess, der findet sowohl im ESM-Vertrag, als auch im Fiskalvertrag nicht statt, sondern ganz im Gegenteil: Es wird die IWF-Politik kopiert. Das kann man ja so sehen. Wenn man Monetarist ist, kann man es durchaus so sehen, aber auch hier finde ich es äußerst problematisch, dass gar nicht in Alternativen, in meinen Augen jedenfalls, wirklich ernsthaft diskutiert wird.
Matthias Garscha: Ja, zumal ja der IWF in Südamerika total an Standing verloren hat und dort alle Länder bestrebt waren in den letzten zehn Jahren, ihn loszuwerden. Die asiatischen Länder – das muss ich jetzt auch noch hier anführen – haben aus dieser Wirtschaftskrise 1998, aus der Finanzkrise, die Asien betroffen hat, auch die Lehre gezogen, dass sie am besten nie mehr den IWF bei sich reinlassen müssen und deswegen hohe Devisenschätze aufgebaut haben, um das zu verhindern. Und jetzt holen wir Europäer ihn hereinholen. Ich halte das, wie gesagt, – man müsste es ausleuchten, ich kann das auch nicht – Aber hier kommen Interessen herein, die eine europäische Lösung alleine, nicht immer nur förderlich sind.
Robert Arnold: Jetzt kommen wir wieder ein bisschen weit von rechtlichen Fragen weg. Ich finde die auch sehr interessant und besonders diskussionswürdig. Ich glaube, die wirtschaftlichen Fragen sind die entscheidenden Fragen. Aber ich würde gerne heute bei den rechtlichen Fragen bleiben, weil wir dafür heute die besondere Kompetenz auf dem Podium haben.
Übertragung von Hoheitsrechten durch den Fiskalpakt?
Tim Weber: Ich habe eine Frage an Herrn Heidfeld.
Robert Arnold: bitte.
Tim Weber: Ihre Interpretation, dass beim ESM-Vertrag keine Hoheitsübertragung stattfindet, die kann ich nachvollziehen. Das dachte ich auch selber, als ich mir den Vertrag durchgelesen habe: Ja, ok, man kann es so sehen. Beim Fiskalvertrag bin ich verwundert oder würde ich mich auch freuen, wenn Sie es mir erläutern können. Denn es ist ja schon so, dass man gemerkt hat, die Masstricht-Kriterien, sind zwar ganz richtig, aber irgendwie haben wir es nicht geschafft, die durchzuhalten. Jetzt machen wir es anders; wir drehen das 2/3-Prinzip um und falls wir die Kriterien nicht einhalten, geben wir den europäischen Institutionen, z. B. der Kommission, Überwachungsrechte. Das würde für Deutsche bedeutenden: wir haben eine Staatsverschuldung von über 80% - es würde jetzt demnächst bei uns greifen, dass wir also von der EU-Kommission überwacht werden. Da würde ich sagen: Im Moment ist es noch so: keiner überwacht Deutschland, und auch alle anderen Nationalstaaten nicht. In Zukunft wird es so sein, dass uns jemand überwacht. Da sehe ich eine Übertragung von Hoheitsrechten. Aber Sie sehen es anders und mich würde interessieren, warum.
Christian Heidfeld: Die Überwachung durch die Mechanismen des Fiskalpaktes geschehen immer noch auf der völkerrechtlichen Ebene. Dies wäre nur dann anders, wenn der Fiskalpakt innerhalb des Europarechts implementiert worden wäre. Völkerrechtlich haben gibt es aber keine Durchgriffsrechte, auch wenn die EU-Kommission handelt. Solche Durchgriffsrechte würden nur bestehen, wenn die Kommission auf europarechtlicher Basis handeln würde. Ohne solche Durchgriffsrechte übertragen wir durch den Fiskalvertrag weder Hoheitsrechte auf die Europäische Union, noch auf irgendeine andere Organisation.
Tim Weber: Vielen Dank, das habe ich verstanden. Das sehe ich tatsächlich an der Stelle anders und zwar hatte ich ja vorhin schon diesen Begriff „Komplementärrecht zur EU“ eingeführt. Man kann es als völkerrechtlichen Vertrag beschreiben, wie Sie es machen, aber es ist ja offensichtlich, dass die Nähe zur EU gesucht wird, das Interesse besteht, es in die EU-Verträge zu überführen und das Bundesverfassungsgericht hatte gesagt: Hier müsst ihr Artikel 23 anwenden. Ich sehe es beim Fiskalvertrag auch so. Es ist es zwar kein EU-Recht, weil es nicht einstimmig war, weil Tschechien und Großbritannien nicht mitgemacht haben, aber die Absicht, die hinter diesem Fiskalvertrag steht, und wo man hin will, ist doch so eindeutig, dass man ins EU-Recht will und dass die Kommission auch Durchgriffsrechte haben soll. Maastricht hat nicht funktioniert, man möchte aber einen geldpolitischen Ansatz mit einer Haushaltsdisziplin, den kann man ja auch vertreten, und deswegen gibt man der EU-Kommission diese Durchgriffsrechte. Zwar könnte der Nationalstaat immer sagen: Nein, wollen wir doch nicht, aber im Grund verpflichtet man sich hier, dass die EU-Kommission das in Zukunft hat.
Christian Heidfeld: Man verpflichtet sich „nur“ auf der völkerrechtlichen Ebene. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.6.2012, wo gesagt wurde, dass auf Verträge, die Nähe zur Europäischen Union aufweisen, wie der ESM, Artikel 23 Abs. 2 – 7 Grundgesetz anzuwenden ist, heißt in diesem Zusammenhang aber nur, dass dabei die Informationsrechte des Artikel 23 Abs. 2 – 7 GG zu gewahren sind. Über die Einordnung dieses Vertrages ins Europarecht wird damit noch rein gar nichts gesagt. Dabei ging es allein um die Informationsrechte nach Art. 23 Abs. 2 – 7 Grundgesetz. Ob damit auch Hoheitsrechte übertragen werden, wozu Artikel 23 Abs. 1 Grundgesetz ermächtigen würde, ist damit noch gar nichts gesagt worden.
Tim Weber: Ja, da gehe ich völlig d’accord. Man wird sehen, was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt, dass auch der Fiskalvertrag Artikel 23 zugeordnet werden muss. Da haben Sie völlig recht: Die Mehrheitserfordernisse sind eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Unsere Interpretation ist: Wenn hier Hoheitsrechte übertragen werden, und zwar im Haushaltsbereich, ist es dann nicht auch ein Punkt, an dem diese rote Linie, die ich vorhin erwähnt habe, nicht dann doch mal überschritten worden ist?
Christian Heidfeld: Ja, die Zweidrittelmehrheit ist auch für den Fiskalpakt angedacht, d.h. vom Standpunkt des Artikel 23 Grundgesetz wären die formellem Mehrheiten für eine Übertragung von Hoheitsrechten erfüllt. Nun zur Frage, ob der Fiskalpakt die Haushaltsverantwortung beschränkt. Das sehe ich beim Fiskalvertrag nicht. Denn wozu verpflichtet sich die Bundesrepublik Deutschland? Wir verpflichten uns durch den Fiskalvertrag zu etwas, was wir in Deutschland ohnehin bereits haben: einer Schuldenbremse. Somit wird die Haushaltverantwortung des Bundestages durch den Fiskalvertrag nicht weiter eingeschränkt, als sie durch die Schuldenbremse ohnehin schon eingeschränkt ist. Eine Schuldenbremse ist zudem auch gerade aus Sicht des Prinzips der Haushaltsverantwortung bzw. des Demokratieprinzips gar nicht so schlecht: Denn Haushaltsverantwortung bedeutet nicht nur, dass der Bundestages die freie Verantwortung für seinen jetzigen Haushalt hat, sondern dass auch zukünftige Bundetage einen Haushalt in freier Entscheidung beschließen können. Und genau dazu dient eine Schuldenbremse, denn je mehr Schulden wir heute machen, desto weniger Möglichkeiten haben zukünftige Bundestage, ihren Haushalt frei zu bestimmen.
Matthias Garscha: Aber der Fiskalpaket geht über die Schuldenbremse hinaus. Er sagt, über die 60% bestehenden Staatsverschuldung muss in 20 Jahren zu einem gewissen Prozentsatz jährlich zurückgeführt werden. Das gilt für alle Staaten; einige Länder werden unheimliche Schwierigkeiten bekommen, selbst Deutschland dürfte es fast gar nicht möglich sein, ohne Wachstum. Da ist doch schon ein Eingriff, wie ihn Herr Tim Weber sieht, der über die deutsche Schuldenbremse hinausgeht.
Tim Weber: Und ich möchte noch eins anfügen. Es geht um dieses Kündigungsrecht, das im Fiskalvertrag nicht geregelt ist, also gilt die Wiener Vertrags Konvention. Da schreibe Sie ja selber:
- Es gibt Artikel 62, also Wegfall der Geschäftsgrundlage, und
- es gibt die Möglichkeit, Artikel 50 EUV aus der EU auszutreten.
Da haben Sie natürlich recht, diese Souveränität hätte Deutschland nach wie vor. Aber da sieht man doch, dass da ein qualitativer Unterschied besteht: Ich müsste erst aus der EU austreten, um dann die Regeln wieder zu ändern. Wenn ich nur die Schuldenbremse hätte, könnte ich das mit Zweidrittelmehrheit des Bundestages und des Bundesrates machen. Diese Möglichkeit der Zweidrittelmehrheit, die ist in Zukunft verbaut.
Christian Heidfeld: Die innerdeutsche Schuldenbremse lässt sich auch nur mit Zweidrittelmehrheit des Bundestages und des Bundesrates ändern. Aber gut, das ließe sich machen. Nun zur Kündbarkeit des Fiskalpaktes: Zunächst einmal sei noch einmal betont, dass der Fiskalpakt Deutschland nur auf der völkerrechtlichen Ebene bindet. Kündbar ist er schon daher durch völkerrechtliche Instrumente, wie etwa den Wegfall der Geschäftsgrundlage. Eine Kündigung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage käme etwa in Betracht, wenn der Fiskalvertrag auch in Zukunft nicht in EU-Recht überführt wird, obwohl diese Überführung im Fiskalpakt – quasi als Geschäftsgrundlage – vorgesehen ist. Zum anderen steht im Fiskalpakt auch ausdrücklich, dass er nur auf Mitgliedstaaten der EU anwendbar ist. D.h., dass ein Austritt aus der EU nach Art. 50 EUV auch von den Bindungen des Fiskalpaktes befreit. Der Fiskalpakt ist also keineswegs unkündbar.
Robert Arnold: Ich hätte dazu ein paar Nachfragen. Würde aber jetzt erst mal PiratenBeat bitten, ihre Fragen zustellen. Dazu muss sie erstmal entstummen, sonst können wir nichts hören.
Erfolgsaussichten der Klagen gegen ESM und Fiskalpakt
PiratenBeat: Ich habe heute gelesen, dass unmittelbar nach der Abstimmung heute Abend mehr als 12.000 Verfassungsbeschwerden, zwei Organklagen und eine Reihe von Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eingereicht werden. Mich würde interessieren, wie Sie die Aussichten dieser ESM-Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht beurteilen.
Tim Weber: Beim ESM-Vertrag bin ich auf Grund des Begleitgesetzes etwas skeptischer und weil ich die Interpretation von Herrn Heidfeld und Herrn Mayer, dass hier keine Übertragung von Hoheitsrechten stattfindet, nachvollziehen kann. Beim Fiskalvertrag bin ich sehr viel optimistischer, weil ich hier eine Übertragung von Hoheitsrechten und eben diese Überschreitung der roten Linie sehe.
Was ich aber ganz sicher glaube – unabhängig davon, wie das Verfahren in Karlsruhe ausgeht, denn das wäre natürlich eine Sensation, wenn wir mit den Klagen durchkämen –ist der Zeitpunkt, zu dem eine Volksabstimmung stattfindet wird, genau über die Frage, wie wir Europa in Zukunft haben wollen, nicht mehr weit. Es mehren sich die Anzeichen, dass wir nicht immer so weiter wurschteln können, wie in den letzten 20 Jahren.
Christian Heidfeld: Wenn ich eine Prognose abgeben dürfte, wie ich die Erfolgsaussichten der Klagen sehe, würde ich sagen: In der Substanz wird das Verfassungsgericht weder den ESM noch den Fiskalpakt kippen.
Möglich ist, dass es an der Begleitgesetzgebung etwas bemängelt, wie es das schon im Verfahren um die Griechenlandhilfen und den EFSF gemacht hat. Aber in der Substanz wird das Verfassungsgericht, meines Erachtens nach, nicht ändern. Denn, wie gesagt, weder beim ESM noch beim Fiskalvertrag geht es um die Übertragung von Hoheitsrechten und auch die Haushaltsverantwortung des Bundestages wird nicht verletzt. Das Bundesverfassungsgericht wird wohl auch nichts zu einer Volksabstimmung sagen, die gesamte Konstruktion über Artikel 146 Grundgesetz, die bis jetzt immer nur in Aussagen einzelner Verfassungsrichter in den Medien aufgetaucht ist, nicht substanziell ist. Dass in der politischen Diskussion während des gesamten Prozesses vielleicht die Frage nach einer Grundgesetzänderung und einer Volksabstimmung, also der Normierung einer Volksabstimmung im Grundgesetz, aufkommen wird, das halte ich dagegen nicht für ausgeschlossen.
Fortsetzung: Übertragung von Hoheitsrechten: verfassungsrechtlich maximale Haftung Deutschlands
Tim Weber: Herr Heidfeld, Sie hatten vorhin gesagt, bei dieser Haftungssumme von 190 Milliarden, dass man sich schon fragen kann: Ist da nicht möglicherweise der Gestaltungsspielraum zukünftiger Parlamente zu stark in Mitleidenschaft gezogen? Mich würde interessieren, weil sich das Bundesverfassungsgericht immer wieder über diesen Artikel 38, Absatz 1 Grundgesetz äußert und immer wieder sagt: Es muss substanziell Gestaltungsspielraum beim Deutschen Bundestag bleiben. Wo sehen Sie da die Grenze?
Christian Heidfeld: Das ist wirklich eine gute Frage. Ich war bei der mündlichen Verhandlung zu den Griechenlandhilfen und der EFSF dabei, da haben die Richter – erfolglos – versucht, aus den Prozessvertretern genau das herauszubekommen, wo sie diese Grenze sehen. Das Verfassungsgericht hat dann am Ende entschieden: Es gibt irgendwo eine quantitative Grenze für Gewährleistungsermächtigungen; konkretisiert hat es diese aber nicht. Nur bei den Garantien für die Griechenlandhilfen und die EFSF hat es diese Grenze als noch nicht erreicht gesehen. Bei Eurobonds, wo Deutschland im Zweifel für 9.000 Milliarden Euro Staatsschulden haften würde, wäre meines Erachtens nach diese Grenze dann aber überschritten. Ansonsten ist es aber sehr schwierig eine Summe als Grenze zu nennen, weil man immer beachten muss, wie hoch das Ausfallrisiko ist. So billigt der Bundestag pro Jahr Hermes-Bürgschaften in Milliardenhöhe. Das ist überhaupt kein Problem, weil der Ausfall einer Hermes Bürgschaft recht gering ist. Der Verfassungsrichter Huber hat jedenfalls mal in den Medien gesagt, eine Grenze könnte bei der Höhe eines Bundeshaushaltes erreicht sein – das sind etwas mehr als 300 Milliarden.
Tim Weber: Ich meinte meine Frage nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Man kann beobachten, dass über diese Figur des einheitlichen Binnenmarktes immer mehr Kompetenzen zur EU wandern, dass immer mehr Richtlinien verabschiedet werden und tatsächlich auch qualitativ der Handlungsspielraum der nationalen Parlamente geringer wird. Mir ist schon klar, dass das schwer ist, aber sehen Sie da irgendwo auch eine Grenze, dass Sie sagen würden: Nein, jetzt haben wir einen Punkt erreicht, das ist zu viel.
Christian Heidfeld: Ich sehe zurzeit noch keine Grenze der Kompetenzübertragung an die EU, weil ich auch glaube, dass in einer globalisierten Welt ein Mehr an Kompetenzen der Europäischen Union gerade von Vorteil ist. Ich nenne mal das Stichwort „Finanztransaktionssteuer“ oder „Finanzmarktregulierung“ – da hätte ich gerne noch mehr Kompetenz auf Europäischer Ebene, weil ich glaube, dass kann in diesen Bereichen der einzelne Mitgliedstaat kaum noch effektiv handeln kann. Insoweit würde ein Mehr an Kompetenzen der EU immer auch ein Mehr an effektiven Kompetenzen der Mitgliedstaaten bedeuten, so bei Kompetenzübertragungen nicht von einem Nullsummenspiel ausgegangen werden kann.
Matthias Garscha: Viele Kommentatoren in den Medien haben ja geschrieben, dass die europapolitische Debatte jetzt eigentlich erst beginnt, also wo wir hinwollen in Europa. Tim Weber hat es angesprochen: Es sind jetzt Grenzen erreicht, wo die Hoheitsübertragungsrechte eigentlich schon teilweise erfolgt sind, und auf jeden Fall jetzt anstehen demnächst mit all den roten Linien, über all diese Summen, die wir gerade versucht haben zu definieren, was uns gar nicht möglich ist.
Direkte Bankenhilfe durch den ESM
Matthias Garscha: Ich möchte jetzt noch mal – es wird eine bestimmt total spannende Debatte, die wir vielleicht am Schluss unserer Diskussion noch zumindest einmal anschneiden sollten. Aber ich möchte jetzt noch zur zweiten großen Änderung von gestern Nacht kommen. Und zwar wurde gestern Nacht die Rangfolge der Gläubiger, wenn die Bürgschaften ausfallen sollten, verändert.
Aufgrund der Erfahrungen im Griechenland-Haircut und dem Schuldenschnitt dort, wo ja die Privaten gelitten haben und die EZB und der IWF ja vorrangige Schuldner sind hauptsächlich betroffen waren, hat man gestern die Rangfolge geändert und den ESM mit den privaten Gläubigern gleichgestellt. Aber der IWF dürfte immer noch privilegiert sein. Wie bewerten Sie denn diese Veränderung gestern? Wahrscheinlich doch nur so, dass man damit den Privaten versucht, ihre Angst zu nehmen, dass sie bei einem eventuellen Haircut wieder unter die Räder kommen, während ESM und IWF Vorrang genießen.
Tim Weber: Ich muss zugeben, ich fühle mich da jetzt grad ein Stück weit überfragt, denn ich hab das einfach nicht so genau verfolgt, weil – ich hatte ja gesagt, ich war unterwegs. Also ich muss da passen.
Christian Heidfeld: Ich habe diese gesamten Beschlüsse von gestern Nacht auch heute nur den Medien entnehmen können. Die richtigen Beschlüsse kommen ja erst im Juli noch. Aber da ist was dran, was Sie gesagt haben. Natürlich macht man eine solche Änderung, um den privaten Investoren mehr Sicherheit zu geben. Wie das zu bewerten ist – ich würde sagen, das ist auch eine wirtschaftspolitische Frage.
Durchgriffsrechte
Robert Arnold: Ich würde dann gerne noch einmal die rechtliche Kompetenz nutzen. Ich hab vorhin noch nicht richtig verstanden, was das mit den unterschiedliche Durchgriffsrechten denn für Folgen für Deutschland hat. Also solange der Fiskalpakt nun ein völkerrechtlicher Vertrag ist, was heißt da „nur völkerrechtliches Durchgriffsrecht“?
Christian Heidfeld: Wenn Deutschland gegen den Fiskalpakt verstoßen würde, würde Deutschland „nur“ einen völkerrechtlichen Verstoß begehen. Da gibt es dann völkerrechtliche Möglichkeiten, wie andere Staaten darauf reagieren können, allerdings sind diese Möglichkeiten im allgemeinen Völkerrecht sehr begrenzt. Durchgriffswirkung auf Ebene der Europäischen Union bedeutet dagegen, dass das Recht der Europäischen Union unmittelbar anwendbar ist – und das auch innerhalb der Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Das bedeutet, dass sich einzelne Individuen innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten auf Europarecht, etwa die Grundfreiheiten, vor nationalen Gerichten berufen können und es gegen nationales Recht in Stellung bringen können. Da das Europarecht zudem Anwendungsvorrang vor nationalem Recht hat, kann so das Europarecht gegenüber den Mitgliedstaaten und nationalem Recht durchgesetzt werden. Diese Durchgriffswirkung haben wir im Völkerrecht aber nicht. Wenn dort ein Staat einen völkerrechtlichen Verstoß begeht, berührt das die nationale Rechtsordnung erst einmal gar nicht.
Tim Weber: Aber Herr Heidfeld, ich weiß jetzt nicht genau in welchem Vertrag, aber in einem der beiden Verträge ist doch auch geregelt, dass der EuGH genau hier in eine entscheidende Situation gebracht wird und auch Durchgriffsrecht hat.
Christian Heidfeld: Im Fiskalvertrag ist geregelt, dass der EuGH auch entscheiden kann. Er entscheidet dann aber auf der völkerrechtlichen Ebene. Das ist etwas ganz anderes, als wenn es um einen Beschluss des EuGH innerhalb der Europäischen Union geht, denn der ist dann unmittelbar anwendbar, auch innerhalb des Mitgliedsstaates, nur dort besteht also Durchgriffswirkung.
Tim Weber: Aber der EuGH ist – jetzt mal von ESM- und Fiskalvertrag abgesehen – ja sozusagen einer der wichtigsten Player, was die Integration angeht. Alle Verfahren, die vor dem EuGH geführt werden – ich glaub, es gibt ein, zwei Ausnahmen –, werden immer zu Gunsten der EU-Institutionen entschieden. Dass hier der EuGH in diese Rolle gebracht wird, da kann man politisch doch sehen, wohin die Reise gehen soll und dass man sich wünscht, dass er diese Durchgriffsrechte hat. Er hat sie formaljuristisch nicht – ich verstehe Ihr Argument – aber politisch-faktisch wird er sie doch entwickeln.
Christian Heidfeld: Er soll sie – das steht ja auch im Fiskalvertrag so drin – ja auch bekommen, sobald der Fiskalvertrag in das EU-Recht überführt ist. Dann ja. Vielleicht noch eine Anmerkung: Es gab schon mehrere Fälle, wo der EuGH auch gegen die EU entschieden hat, also auch Richtlinien und Entscheidungen aufgehoben hat.
Tim Weber: Ja, aber da geben Sie mir wahrscheinlich Recht: Es ist eine Entwicklung, womöglich der letzten vier, fünf Jahre, das war lange Zeit ja wirklich anders.
Christian Heidfeld: Das kam auf die Fälle an. Es gab schon immer Fälle, wo Verordnungen und Richtlinien vom EuGH aufgehoben worden sind. Man sieht immer gewisse Entwicklungstendenzen, auch in der Rechtsprechung des EuGH.
Matthias Garscha: Ok, das war eine spannende Diskussion zwischen Ihnen beiden. Ich möchte mal den Robert fragen, da wir ja schon fast vor 22 Uhr sind, ob wir nicht noch einen kleinen Ausblick wagen sollten in die nahe Zukunft. Wie unsere zwei Experten das Demokratiedefizit im Augenblick in Europa sehen. Wie sich dieser Staatenbund, der wir ja im Augenblick immer noch sind, Richtung einer Föderation entwickeln kann und nach welchem Route das geschehen wird oder wie sich auch die Zuhörer da noch mal einbringen können mit Fragen, wie sollen wir denn das Europa jetzt gestalten? Weil diese Europa-Debatte – da bin ich ganz fest überzeugt – ist jetzt spätestens mit diesen zwei Gesetzespaketen in Deutschland in der Mitte der Gesellschaft angekommen, also mindestens in der Politik.
Robert Arnold: Find ich gut. Ich denke allerdings, wir sollten vorher ... also vorher habe ich noch eine konkrete Anschlussfrage. Wenn nämlich der Fiskalpakt wie vorgesehen, in die EU überführt wird, muss dann der Bundestag noch mal zustimmen?
Christian Heidfeld: Auf jeden Fall.
Robert Arnold: OK. Also bevor es direkte Durchgriffsrechte gibt, muss der Bundestag noch mal zustimmen.
Christian Heidfeld: Ja. Und der Bundesrat auch. Eine Überführung des Fiskalpaktes in das Europarecht erfordert somit noch mal ein komplettes Verfahren mit Zustimmungsgesetzen inklusive der gesamten parlamentarischen Beteiligung.
Konsequenzen für Deutschland aus dem Fiskalpakt
Robert Arnold: Dann gibt es noch einen weiteren Punkt: Tim Weber hatte vorhin gesagt, Deutschland würde den Fiskalpakt jetzt nicht erfüllen und deswegen würden sozusagen automatisch, praktisch unmittelbar diese Durchgriffsrechte entstehen. Ist das richtig? Sehen Sie das auch so?
Christian Heidfeld: Wie gesagt: Es entstehen dann Konsequenzen auf der völkerrechtlichen Ebene, auf der der Fiskalvertrag verortet ist. Diese Durchgriffsrechte, von denen ich immer gesprochen habe, die haben wir im europäischen Bereich, also im Bereich der Europäischen Union, wo sich der Fiskalvertrag aber nicht befindet.
Robert Arnold: Ich habe da wohl meine Worte nicht richtig gewählt. Ich wollte fragen: Verletzen wir sozusagen im nächsten Jahr direkt diesen Vertrag, den Fiskalvertrag, so dass wir sofort mit Sanktionen zu rechnen hätten?
Tim Weber: Also nicht mit Sanktionen, würde Herr Heidfeld sagen, aber mit Verpflichtungen. Das ist offensichtlich. Wir haben über 80% Staatsverschuldung, 60% sind die Grenze, also müssen wir – ich seh’s anders – aber Herrn Heidfelds Worten nach den völkerrechtlichen Verpflichtungen entsprechend handeln.
Christian Heidfeld: Ja, wobei der Fiskalvertrag Übergangsfristen hat. Diese Übergangsfristen lassen uns noch eine gewisse Zeit, bis wir dann natürlich auch diesen Verpflichtungen, etwa den Abbaupflichten, unterliegen. Im nächsten Jahr wird das aber noch nicht der Fall sein, wegen der Übergangsfristen.
Robert Arnold: Also, ich frage, weil mir noch nicht so ganz klar ist, in welchem Fall die genau greifen. Ich habe diesen Fiskalpakt nur so überflogen, und da steht irgendwo, wenn es mehr als ich weiß nicht wie viel Prozent Schulden sind, dann ist man verpflichtet, die Schulden abzubauen – jedes Jahr um einen bestimmten Prozentsatz oder alle 5 Jahre um 5% oder irgendwie so was. Ich weiß nicht mehr ganz genau.
Matthias Garscha: Also im Fall Italien, deren Schulden ca. 120% des BIP hat, wenn es 3% im Jahr vom Bruttoinlandsprodukt, vom BIP, und das zeigt schon, da das ja kein Land in den letzten 60 Jahren überhaupt geschafft hat oder überhaupt noch nicht mal angegangen hat, das dass im Prinzip vollkommen unrealistische Vorstellungen sind, was der Fiskalpakt hier äußert. Für Deutschland ist es natürlich weniger. Bei uns sind nur 20, bei uns dürfte es ein Prozent dann nur sein, und das ist natürlich viel weniger.
Robert Arnold: Dann interessiert mich, was dann mit diesen Staaten passiert im völkerrechtlichen Umfeld. Mit welchen Maßnahmen sozusagen aus Luxemburg haben diese Staaten, also unter anderem auch Deutschland, dann zu rechnen?
Christian Heidfeld: Das Wesentlichste was passiert, ist, dass wir eine Verknüpfung von Fiskalpakt und ESM haben, so dass diese Staaten dann – so sieht es jedenfalls diese Verknüpfung vor – erstmal keine Hilfen von Seiten des ESM beanspruchen können. Das ist wahrscheinlich eine der wesentlichsten und auch spürbarsten Konsequenzen für diese Staaten – was Deutschland weniger berühren dürfte.
Matthias Garscha: Aber da muss ich wieder ganz kurz dazuwischen funken. Herr Weber, genau das hat heute der haushaltspolitische Sprecher der SPD ja moniert: Dadurch, dass jetzt der ESM die Banken direkt finanzieren soll, ist der Fiskalpakt eigentlich ein zahnloser Tiger.
Tim Weber: Ja, das wollte ich gerade sagen. Wenn man böse ist... also Maastricht hat gezeigt, dieses Kriterium von 60% ist nicht einzuhalten. Das heißt: Wenn diese Verknüpfung eintritt, die Herr Heidfeld angesprochen hat, dass dann der ESM den Staaten keine Mittel zur Verfügung stellen kann, dann hat man jetzt einen Akteur gefunden, der das Geld kriegen kann, nämlich die Banken.
Christian Heidfeld: Interessanter Punkt. Wobei wir dabei natürlich auch eines nicht vergessen dürfen: Es gibt Länder, die haben zunächst einmal eine starke Bankenkrise, wie etwa Irland sowie Spanien und es gibt Länder mit einer wirklichen Staatsschuldenkrise, etwa Griechenland und wohl auch Italien. Der neue Mechanismus des ESM zur Bankenrettung wird daher wohl eher Länder wie Irland und Spanien betreffen. Griechenland und Italien nützt diese Bankenfinanzierung erstmal wenig zur Lösung ihrer Probleme, weil diese Länder ein größeres Problem mit ihren Staatsschulden haben.
Matthias Garscha: Ja gut, bei den Staatsschuldenländern kauft der ESM am Sekundärmarkt oder Primärmarkt die Staatsschulden auf. Das ist aber auch wieder so, dass der Fiskalpakt praktisch dadurch entwertet wird. In beiden Fällen. Das sind zwei unterschiedliche Fälle, da gebe ich Ihnen Recht – bei Irland und Spanien sind es Bankenhilfen, und im Falle von Portugal, Griechenland oder Italien wären es direkte Käufe des ESM am Sekundärmarkt.
Christian Heidfeld: Wobei diese Käufe am Sekundärmarkt als Maßnahmen des ESM wohl auch ausgeschlossen sind, wenn ein Mitgliedstaat den Fiskalvertrag verletzt.
Matthias Garscha: Aha ... Also es ging ja heute den ganzen Tag um die Deutungshoheit der Beschlüsse von gestern Nacht. Das hat ein Herr Monti und eine Frau Merkel natürlich sehr unterschiedlich gedeutet.
Christian Heidfeld: Ja, ich glaube, das kennt man ja. Das ist ja ein Spiel, das man nach Wahlen und nach Verhandlungen eigentlich immer sieht, dass beide Parteien es anders auslegen. Man muss jetzt sehen, was dann wirklich in den Beschlüssen steht und wie sich das Ganze weiterentwickelt.
Matthias Garscha: Ja, Robert, wie kommen wir jetzt weiter? Wollen wir diesen europapolitischen Ausblick mal wagen in den nächsten 15 Minuten und dann die Sitzung so weit beenden?
Zusammenfassung der Ergebnisse
Robert Arnold: ja, fast. Vorher würde ich gerne mal so aus meiner Sicht noch zusammenfassen, was ich heute, jetzt verstanden habe. Was einigermaßen Konsens hier zu seien scheint. Wenn das nicht der Fall ist, würde ich Referenten bitten, mir zu widersprechen. Danach würde ich gerne mit nicht fünfzehn, sondern fünfminütigen Statement zur Zukunft bitten. Ja? Ich habe gelernt:
- Beide Referenten sehen, dass durch das Verfassungsgerichtsurteil der Bundestag bei künftigen Entscheidungen des ESM hinreichend beteiligt ist und auch hinreichend informiert wird.
- Trotzdem wäre es wünschenswert, dass auch das EU-Parlament, immer alle in Entscheidungen einbezogen wird und nicht nur hinzugezogen werden kann.
- Es wäre schön, wenn es in der EU eine Strafverfolgungsbehörde gäbe, die für alle EU-Angestellten tätig wäre, damit das Immunitätsproblem gelöst wird. Und
- Rechtlich entscheidend ist die Frage: In welchem Umfang der gegenwärtige Bundestag Garantien aussprechen und damit künftige Bundestage eventuell sehr stark binden kann. Es geht um die Frage: Wie groß darf der deutsche Haftungsanteil maximal sein? Wo liegt die rote Linie?
Ist das so einigermaßen Konsens?
Christian Heidfeld: Weitestgehend. Der Vorschlag der Einbindung des Europäischen Parlaments kam von Herrn Weber. Ich stelle mir das schwierig vor, wie man das Europäische Parlament in den völkerrechtlichen Mechanismus des ESM einbinden sollte.
Tim Weber: Also es waren alles Ergebnisse, es waren alles Aspekte, die genannt worden sind. Aber bei der europäischen Strafverfolgungsbehörde habe ich auch nicht zugestimmt.
Christian Heidfeld: Da wäre ich vielleicht auch etwas vorsichtiger. Das ist eine Möglichkeit, wie man das über das europäische Recht regeln könnte, damit man diese Immunitäten vielleicht irgendwann mal nicht mehr braucht. Ob man das jetzt schon fordern soll, da wäre ich auch erstmal vorsichtiger. Denn gerade in der jetzigen Situation eine weitere Kompetenz an Europa zu übertragen, würde sicherlich auf kritische Stimmen stoßen. Daher glaube ich, dass es derzeit nicht hilfreich wäre.
Robert Arnold: Ok, vielen dank. Dann würde ich jetzt um so ein ganz kurzes Statement bitten, was dann die Sitzung abschließen würde.
Zukunft der EU
Matthias Garscha: Ich möchte nochmals erwähnen: Das Europäische Parlament, das ist ja an diesem ganzen Verfahren so gut wie gar nicht beteiligt gewesen. Herr Weber hatte vorhin mal gesagt, dass eigentlich die Executivgewalt hier sehr, sehr weit vorangeschritten ist. Ich habe das Gefühl, dass die Executivgewalt, die natürlich auf Grund der Sachzwänge und der problematischen Krisensituationen das vielleicht auch so machen musste bis zu einem gewissen Maße, nicht doch wieder in der Gewaltenteilungen also stärker eingefangen werden muss.
Aber wie stellen Sie beide sich vor, den weiteren Weg in Richtung einer Weiterentwicklung der Europäischen Union? Wie soll das aussehen?
Heinrich August Winkler hat in der FAZ eine ganze Seite gefüllt (er war auch letzte Woche, am Sonntag im Presseclub) und hat dort von Schritten in Richtung einer starken Föderation gesprochen, die nach dem deutschen Modell auf europäischer Ebene, nach dem Subsidiaritätsprinzip. Diese Richtung könnte er sich vorstellen zu gehen. Das würde natürlich substantielle Veränderungen auf europäischer Ebene erforderlich machen.
Joschka Fischer geht sogar soweit, dass er sagt, dass gegenwärtig die Regierungschefs praktisch die EU-Regierung bilden, in dieser noch nicht existierenden Förderation. Dem europäischen Parlament misst er fasst gar keine Bedeutung mehr zu, sondern meint, das müssten Vertreter aus den nationalen Parlamenten praktisch Abgeordnete sein, die irgendwie eine Art erste Kammer bilden, dann zusammenkommen müssen, während die Bundesstaaten dann eine Art zweiter Kammer bilden. Also, versuchen Sie einmal von Ihrer Sicht zu skizzieren, welche Lösung Sie da persönlich favorisieren.
Tim Weber: Also, ich spreche jetzt mich, nicht für Mehr Demokratie e.V. Ich favorisiere tatsächlich eine Bundesstaatenlösung. Ich würde mir diesen Integrationsschritt wünschen. Allerdings, nicht den bundesdeutschen Förderalismus, weil das für mich kein gutes Beispiel ist, sondern ich würde eher den schweizerischen oder den USA-Förderalismus befürworten. Ich würde mir
- wünschen, das es eine klare Aufteilung der Kompetenzen gibt, nicht so wie es jetzt im EUV geregelt ist. Was soll eigentlich wo entschieden werden? Das ist immer schwierig im föderalen System. Aber ich glaube diese Arbeit müsste mal geleistet werden. Und der EUV hat sich damals an dem Grundgesetz orientiert. Damit war er meines Erachtens schlecht beraten.
- Würde ich mir ein Parlament wünschen, das proportional besetzt ist, d. h. also Malta kriegt von mir aus, einen Sitz, und Deutschland hätte entsprechend hundert oder Hundertfünfzehn Sitze. Und ich würde mir im EU-Parlament wünschen, das das Gesetzes-Initiativrecht hat.
- Weiterhin schlage ich eine weitere Kammer vor, die dann siehe US -Senat, siehe zweite Kammer in der Schweiz, von mir aus mit jeweils zwei Leuten besetzt ist aus jedem Staat. Und jede Richtlinie und jedes Gesetz wäre nur dann gültig, wenn beide Kammern zustimmen, dann hätte ich da das förderale Prinzip berücksichtigt. Ich würde also die Executiv-Ebene der Nationalstaaten völlig aus der EU-Ebene rausdrängen und hätte dann die Hoffnung, wenn die Kompetenz-Kompetenz bei den Nationalstaaten bleibt, dass sie dann sehr viel weniger freizügig wären, mit der Übertragung von Kompetenzen als sie es jetzt sind. Denn im Moment haben wir es so: Ich komme als Regierungsvertreter in meinem Nationalparlament nicht weiter, dann überlege ich mir, ob ich eine Richtlinie formulieren kann und kriege es eben dann doch durch. Also dieses sogenannte Spiel über die Bande wäre dann m.E. nicht mehr möglich
- Und schließlich mein letzter Wunsch, ich weiß, das ist ein Programm für mehrere Jahrzehnte, würde ich mir selbstverständlich auch direktdemokratische Instrumente auf der EU-Ebene wünschen.
Christian Heidfeld: Was mir persönlich für die Zukunft wichtig erscheint, ist zum einen, dass wir ein Mehr an Europa brauchen, eine stärkere Integration. Denn ich denke, dass wir nur durch dieses Mehr an Europa es schaffen werden, die Probleme, die wir gegenwärtig in Europa haben, zu lösen. Ich will auch einen kleinen Blick zurück geben: Wenn man mal schaut, was die Europäische Union in den letzten 50 Jahren erreicht hat, müssen wir doch sagen, wir stehen jetzt zwar vor Problemen, wir hatten auch zwischendurch Probleme, aber wir haben doch im Grunde für Europa und für jeden einzelnen Mitgliedstaat eine Menge erreicht. Dazu sei einfach nur mal das Stichwort Friedenssicherung genannt.
Ich denke, dass wir deshalb auch jetzt in der Krise versuchen sollten, gemeinsam mit europäischen Instrumenten –den ESM nenne ich ganz bewusst als eines dieser Instrumente – versuchen, diese Krise gemeinsam zu bewältigen und dann gibt es auch die Möglichkeit zu schauen, wohin die weitere Reise geht- in etwa in Richtung Europäischer Bundesstaat. Das ist aber eine eigene Diskussion. Was mir wichtig ist, ist zu sagen: Ich glaube, wenn wir aus der Krise wollen, dann mit einem Mehr an Europa statt mit einem Weniger.
Matthias Garscha: Vielen dank an Sie beide... Ich kann nochmal berichten von der Diskussion hier. Hier sind sehr viele, wie gesagt, sehr kritisch gegenüber dem ESM eingestellt. Sie sehen sehr große Gefahren darin. Wir hatten innerhalb der Partei, der Piratenpartei, immer Diskussionen, wenn man gegen des ESM war, war man nicht automatisch gegen den Euro oder gegen, schon gar nicht, gegen Europa, weil die Piratenpartei eine ganz klar pro-europäische Partei ist. Wir hätten uns gewünscht, dass ein anderes Instrumentarium auf der geldpolitischen und überhaupt auf dieser wirtschaftlichen Seite gegeben hätte, als diese beiden da, Fiskalpakt und ESM. Nach unserer Meinung hätten da andere Instrumente zur Verfügung gestanden. Es war vorhin ganz kurz in der Diskussion über den Artikel 123 angeklungen, das haben wir nicht. Da müssen wir hinwirken. Ich bedanke mich bei beiden Referenten heute Abend hier. Ich hoffe Sie haben einen kleinen Einblick bekommen, wie wir arbeiten. Für das Schlusswort übergebe ich dann an Robert.
Robert Arnold: Ja! Ich möchte auch beiden Referenten sehr herzlich danken. Ich bin total begeistert, wie gut hier diese Diskussion, und es war ja auch für uns die erste Podiums_diskussion_, also mit zwei verschiedenen Meinungen auf dem Podium. Ich bin sehr begeistert wie gut das funktioniert hat. Ich hab eine ganze Menge gelernt heute. Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Immunität (3/3)
Matthias Garscha: Vielleicht noch eine letzte Frage an AllenW?
AllanW: Eigentlich keine Frage, nur ein kleiner Gedanke zur Sache „Immunität“. Rein theoretisch: Wenn ich Direktor beim ESM wäre, hätte ich nach drei vier Jahren ein Prozent von den 700 Milliarden beiseite getan und dann würde ich einen längeren Urlaub nehmen. Ob nachträglich meine Immunität aufgehoben werden würde oder nicht, würde mich nicht so sehr interessieren. Mit sieben Milliarden kann ich auch eine Sterbeurkunde organisieren.
Christian Heidfeld: Wie gesagt, die Immunität ist nur der Grundsatz, der aufgehoben werden kann. In so einem Falle würde die Immunität auch aufgehoben werden. Und im Übrigen kann der Direktor des ESM auch gar keinen Zugriff auf die 700 Mrd. Euro haben, dass sind zum größten Teil Garantien der Mitgliedstaaten.
Reflektion
Matthias Garscha: Herr Heidfeld, Herr Weber, vielen dank. Was haben Sie für einen Eindruck gewonnen von der Podiumsdiskussion?
Christian Heidfeld: Ich fand es sehr interessant. Es war für mich die erste Online-Podiumsdiskussion. Eine schöne Erfahrung. Man lernt ja auch als Teilnehmer dieser Podiumsdiskussion immer noch dazu. Ich glaube, wir sprechen hier über ein so komplexes Gebilde, dass man da eigentlich nie auslernen kann.
Tim Weber: Ja! Ebenso! Erst mal für das Angebot, hier teilnehmen zu dürfen und überhaupt die Podiumsdiskussion . Ich fand es sehr spannend, das online mal auszuprobieren und auch speziell an Sie Herr Heidfeld. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, mit Ihnen zu diskutieren und von Ihnen auch einige Fragen beantwortet zu bekommen.
Christian Heidfeld: Vielen Dank, das kann ich nur zurückgegeben.