Schutz vor Passivrauch/NiSchG NRW: 1. Offener Brief

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Einleitung

Beim NRW-Landesparteitag 2012.3 wurde mit "breiter Mehrheit" (Protokoll) ein Positionspapier zum Änderungsgesetz zum Nichtraucherschutzgesetz (NiRSchG) NRW angenommen.

Der Inhalt und die handwerkliche Qualität dieses Papiers sowie die Umstände der Antrags-Einbringung entsprechen in keiner Weise den Ansprüchen und Qualitätsmaßstäben, die wir Piraten an unsere politische Arbeit stellen. Deshalb wenden wir uns mit einem offenen Brief an die Piraten der Landtagsfraktion NRW.

Wir bitten euch, diesen offenen Brief zu unterstützen, indem ihr euch unten in die Unterstützerliste eintragt.

Den Antrag zum strittigen Positionspapier findet ihr hier

Die Diskussion zu diesem Papier und der gegen den Willen der Verfasser dieses Briefs unten eingebrachten Kategorie "Nicht-Unterstützer" findet ihr auf der Diskussionsseite.

Offener Brief (Hauptteil)

03.07.2012

Liebe Piraten im Landtag von NRW,

bitte unterstützt das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zum Schutz von Nichtraucherinnen und Nichtrauchern in Nordrhein-Westfalen (Nichtraucherschutzgesetz NRW - NiSchG NRW).

Dieses Gesetz bedeutet einen erheblichen sozialen Fortschritt. Die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen, die Tabakrauch aus gesundheitlichen Gründen meiden müssen oder wollen, wird wesentlich verbessert. Der administrative und Kontrollaufwand und die volkswirtschaftlichen Schäden und gesamtgesellschaftlichen Kosten werden verringert.

Dem stehen andererseits finanzielle Verluste einzelner Betriebe entgegen, die aber nur bei jenen Geschäftsmodellen eintreten, die zwingend auf kollektiv selbstschädigendes Verhalten angewiesen sind. Es ist nicht Aufgabe der PIRATEN, veraltete Geschäftsmodelle zu verteidigen, umso weniger wenn diese keinen konstruktiven Beitrag zum Gemeinwesen leisten. Auch private Fehlinvestitionen einzelner Gastwirte in sogenannten „technischen Nichtraucherschutz“, der zu keinem Zeitpunkt als hinreichende Lösung des Problems mit Umgebungsrauch wissenschaftlich anerkannt war, sind kein akzeptabler Grund dafür.

Das auf dem NRW-Landesparteitag am 1.7. angenommene Positionspapier und die Umstände seiner Verabschiedung sind geprägt von dem Bedürfnis, sich einer Auseinandersetzung mit den grundlegenden Problemen zu entziehen. Diese sind:

  • Wie funktionieren Suchterkrankungen? Was bedeuten diese insbesondere für die Freiheit und Selbstbestimmung der direkt und indirekt Betroffenen und wie ist insofern der Umgang mit psychoaktiven Substanzen (Suchtmitteln) sinnvoll und verantwortlich zu gestalten?
  • Welche besonderen Probleme für Dritte bringt der Gebrauch von Substanzen mit sich, die über die Atemwege aufgenommen werden? Wie ist es diesbezüglich um deren Freiheit und Selbstbestimmungsrecht, ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die freie Wahl des Berufes und Arbeitsplatzes bestellt?

Konkret enthält das Positionspapier zum Teil falsche Tatsachenbehauptungen und bezieht sich einseitig auf Daten von Akteuren mit eindeutig privatwirtschaftlichen Gewinninteressen.

Sehr fragwürdig erscheint uns auch die Art, wie das Papier auf dem LPT eingebracht und verhandelt wurde. Zuerst wurde in einem (dann gescheiterten) Anlauf am Samstag versucht, eine erste Fassung unmittelbar durchzudrücken. Am Sonntag wurde daraufhin die überarbeitete, im Kern aber inhaltsgleiche zweite Fassung einem bereits seit Stunden tagenden Parteitag vorgelegt und symbolhaft stark aufgeladen mit dem Hinweis, hier könne jetzt ein Zeichen gesetzt werden für die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Partei und Fraktion.

Außerdem wurde die angebliche Wissenschaftlichkeit des Antrages mehrfach herausgestrichen. Der Begriff der Wissenschaftlichkeit ist hier völlig pervertiert, da nur noch eine bereits feststehende Position bestätigt werden sollte (nämlich: „Wir sehen im bestehenden Fassung von 2009 alle notwendigen Regelungen als bereits getroffen und ausreichend an.”). Wissenschaft bedeutet jedoch Wahrheitssuche, also die ergebnisoffene Prüfung des zu untersuchenden Sachverhaltes. Welcher Schaden hier der Glaubwürdigkeit piratiger Wissenschaftspolitik und der Piratenpartei und -bewegung zugefügt wurde, lässt sich noch gar nicht ermessen.

Mehrere kritische Fragen und Hinweise von der Basis wurden ignoriert, insbesondere jene zur realen Lage von Arbeitnehmern in „Raucherkneipen“ und ihren konkreten Möglichkeiten, mit ihrer Situation alleine fertig zu werden. Dass in der Diskussion eine Beeinflussung der rot-grünen Regierung durch die Tabaklobby zumindest suggeriert wurde (auch von Seiten der Antragsteller), illustriert die Absurdität und Realitätsferne der Debatte. Denn das Positionspapier selbst gewichtet eindeutig Interessen der Tabakindustrie höher als Freiheit, Leben und Gesundheit von (sehr oft prekär) Beschäftigten, Menschen mit Atemwegsbehinderung und Rauchern, die aufhören wollen. Dieses Positionspapier steht in absolutem Gegensatz zu den Grundwerten der Partei.

Mehrfach wurde erwähnt, dass die Piraten ja sowieso keinen Fraktionszwang kennen und sich auch diesbezüglich nicht unter Druck setzen lassen. Insbesondere wurde der vorgelegte Alternativantrag, der eine Positionierung des Landesverbandes ohne eingehende Diskussion ablehnte, aus diesen Gründen als unsinnig bezeichnet. Dennoch bedankte sich Joachim Paul, Fraktionsvorsitzender und Erster auf der Landesliste, am Ende für die Annahme des Papiers mit dem sehr deutlichen Hinweis „wir wissen jetzt, wie wir abstimmen müssen.“ Ohne diesen Imperativ wäre die Aktion den Aufwand in der Tat kaum wert gewesen.

Dennoch bitten wir Euch um genau das Gegenteil: Prüft selbst und folgt in der Abstimmung Eurem eigenen Gewissen.

Mit freundlichen Grüßen

Eric Manneschmidt, Basis-Pirat (Frankfurt am Main)

Thomas Latzke, Basis-Pirat (Euskirchen, NRW)

WilliWurm, Basis-Pirat (Hennef, NRW)

MaSu, Basis-Pirat

Anhang: Kritikpunkte am Positionspapier

Der Text in den grau unterlegten Kästen enthält den Originaltext des Positionspapiers. Die kritischen Kommentare sind direkt den entsprechenden Passagen nachgestellt.

Position zur Novellierung des Nichtraucherschutzgesetz NRW

Vorwort:

Das Einstehen für eine freiheitlich-selbstbestimmten Lebensführung aller Bürger ist Kernmerkmal piratiger Politik. Gesetze, die in die persönliche und wirtschaftliche Entfaltungfreiheit eingreifen, sollen sich alleine auf einen notwendigen Rahmen beschränken, der allen Bürgern ein problemloses Zusammenleben gewährleistet. Ideologische Motive dürfen hierbei keine Rolle spielen.

Position (Hauptteil):

Die NRW-Piraten lehnen die von der Landesregierung geplante Novellierung des nordrhein westfälischen Nichtraucherschutzgesetzes (NiSchG NRW) in der Fassung vom 26.06.2012 ab. Wir sehen in der bestehenden Fassung von 2009 alle notwendigen Regelungen als bereits getroffen und ausreichend an. Das angestrebte totale Rauchverbot sehen wir als Bevormundung von Bürgern und Gastronomie, die tief in die persönliche und wirtschaftliche Entfaltungfreiheit eingreift. Insbesondere lehnen wir die darin angestrebte Aufnahme so genannter E-Zigaretten in das Nichtraucherschutzgesetz ab, da diese Unterordnung jeder wissenschaftlich haltbaren Grundlage entbehrt.

Begründung

(Der AK_Drogenpolitik-NRW analysiert derzeit den Gesetzentwurf in gewohnt sorgfältiger Weise und kommt nach erster Sichtung zu einem vernichtenden Ergebnis. Viele der dieser Gesetzesinitiative zugrunde gelegten Tatssachenbehauptungen müssen und können angezweifelt werden. Die Fülle dieser Mängel ist derart groß, dass in der Kürze der Zeit hier nur die Wesentlichsten aufgeführt werden:)

1. Die E-Zigarette, bei deren Benutzung bisher keinerlei Gefährdung des Umfelds nachgewiesen werden konnte, wird ohne jede sachliche Grundlage der Tabakzigarette gleichgestellt. Dies steht nicht nur dem beschlossenen Wahlprogramm 2012 der NRW-Piraten vollkommen entgegen, sondern kann auch gesundheitspolitisch nur als Irrweg bezeichnet werden. Ferner liegen mittlerweile diverse hoch richterliche Urteile vor, die vorangegangenen Verbots- und Marktbeschränkungs-Bestrebungen des NRW-Gesundheitsministeriums bezüglich der E-Zigarette bereits für ungültig erklären.

Insbesondere nach den Erfahrungen mit der - rein theoretisch - weniger gesundheitsschädlichen Light-Zigarette ist grundsätzlich Skepsis gegenüber der postulierten Harmlosigkeit der E-Zigarette angebracht. Wir erwarten von verantwortungsvollen Politikern eine vernünftige Risikoabwägung und möglichst die Vermeidung von Schäden. Politik, die erst reagiert, wenn Schadwirkungen eingetreten sind, ist schlechte Politik.

2. Mit diesem Gesetz würde der Staat das Rauchen selbst auf Privatfeiern und in geschlossenen Gesellschaften verbieten. Spätestens an dieser Stelle sollten jedem Piraten die Haare zu Berge stehen.

Diese Behauptung entspricht nicht den Tatsachen. So heißt es in §1 des Gesetzes zur Verbesserung des Nichtraucherschutzes in Nordrhein-Westfalen:

  • (1) Die in diesem Gesetz aufgeführten Rauchverbote gelten in Gebäuden und sonstigen vollständig umschlossenen Räumen. Die Rauchverbote gelten nicht in Räumlichkeiten, die ausschließlich der privaten Nutzung vorbehalten sind.

weiter wird im aktuellen Gesetzentwurf angemerkt (Anmerkungen zu §4 (3-4), S. 16):

  • Gaststätten bleibt ungeachtet dessen die Möglichkeit erhalten, im Einzelfall echten geschlossenen Gesellschaften im Rahmen privater Veranstaltungen, wie etwa Familienfeiern, bei denen nur ganz bestimmte Einzelpersonen bewirtet werden, das Rauchen zu gestatten. Dies folgt bereits aus dem Grundsatz, dass Rauchverbote nicht in Räumlichkeiten gelten, die ausschließlich der privaten Nutzung vorbehalten sind (§ 1 Abs. 1 Satz 2 NiSchG NRW).

3. Behauptung: „Nur das Totalverbot lässt sich auch kontrollieren.“ Mit einer Erklärung der eigenen Unfähigkeit zur Durchsetzung eines bestehenden (einschränkenden) Gesetzes zu begründen, dass man daher auf die völlige Prohibition setzen müsse, das kann man wohl nur als schlechten Witz bezeichnen. Auch Zahlen, nach denen es im Alltag nachweisbare nennenswerte Probleme mit der bestehenden Gesetzgebung gibt, lässt das Ministerium vermissen. Hier werden kleinere Probleme einzelner kommunaler Ordnungsbehörden zum flächendeckenden Pauschalargument erhoben.

Es geht hier in erster Linie nicht um die Probleme von Ordnungsbehörden, sondern um die von Menschen. Und es geht darum, dass sich ein kompliziertes Regelwerk mit vielen Ausnahmen und komplizierten Vorschriften mit vertretbarem Aufwand nicht kontrollieren lässt. Das Ministerium für Gesundheit und Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen hat einen umfangreichen Bericht über die Wirkungen des geltenden Nichtraucherscherschutzgesetztes (NiSchG NRW) vorgelegt. Darin werden auch die Probleme damit beschrieben: http://wiki.piratenpartei.de/wiki/images/f/ff/Evaluierung_Nichtraucherschutzgesetz_NRW.pdf

4. Behauptung: „Nichtraucher finden nicht genug rauchfreie Gastronomie vor.“ Laut einer Umfrage des DEHOGA NRW (Gaststättenverband) bieten über 80% aller NRW-Gastrobetriebe ein rauchfreies Umfeld an. Tendenz (auch ohne Prohibition): steigend.

Der Deutsche Hotel und Gaststättenverband (DEHOGA) ist aufgrund langjähriger Verstrickungen mit der Tabakindustrie eine zweifelhafte Quelle.

Eine objektive Zahl bietet eine Erhebung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) vom Februar 2011. Danach sind zwar 65% aller Gaststätten in NRW rauchfrei. Im Bereich Kneipe/Bar sind es aber gerade einmal 14,9% (http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/AdWfP/AdWfP_Nichtraucherschutz_in_Nordrhein_Westfalen.pdf).

5. Die im Gesetzentwurf angestrebten teilweisen Verbote des Rauchens selbst unter freiem Himmel machen deutlich, dass es nicht alleine um Nichtraucherschutz, sondern um eine ideologisch motivierte völlige Raucherprohibition, und somit eine unzulässige Einschränkung der freien Entfaltung des selbstbestimmten Bürgers geht. Auch dies steht beschlossenen Grundpositionen der Piraten entgegen.

Teilweise Rauchverbote ausserhalb umschlossener Räume sind bereits im geltenden Nichtrauchschutzgesetz von 2009 (§ 3 http://www.mgepa.nrw.de/mediapool/pdf/gesundheit/Nichtraucherschutzgesetz_Juli_2009.pdf) verankert. Inwiefern es einer besonderen Ideologie bedarf, um die Exposition von Menschen gegenüber einem nachgewiesen toxischen und karzinogenen Schadstoffgemisch auch unter freiem Himmel zu verhindern oder abzubauen, sei dahin gestellt. Einen grundsätzlichen Unterschied in der Wirkweise und Gesundheitsschädlichkeit von Umgebungsrauch in Abhängigkeit vom Ort der Exposition gibt es nicht.

6. „In Bayern funktioniert es doch auch / keine Probleme in der Gastronomie erkennbar“ (Barbara Steffens, NRW-Gesundheitsministerin und Initiatorin dieses Gesetzes) Dies kann als Falschbehauptung entlarvt werden. Die dieser Aussage zugrunde gelegte Studie ließ bewusst genau die Zielgruppengastronomie aus, die von den Verboten am deutlichsten betroffen waren. Eine Statistik-Schwindelei, wie folgende konkrete Studie genau dazu belegt: [1]

Was auch immer Frau Steffens gesagt hat (es ist nicht Teil des Gesetzentwurfes), die Frage ist, ob die Piraten neuerdings veraltete Geschäftsmodelle verteidigen. Auch ein wirklicher Atomausstieg wird für einzelne wirtschaftliche Akteure finanzielle Verluste nach sich ziehen. Sogar die heutige Sozialgesetzgebung („Hartz IV“) hat besondere Geschäftsformen hervorgebracht; müssen wir die jetzt auch alle verteidigen? Es ist klar, dass Geschäftsmodelle, die zentral auf die Anwesenheit von Umgebungsrauch abstellen, mit jedweder Regelung zum Schutz vor Passivrauchen Probleme bekommen. Und das ist gut so.

Nicht zuletzt sollte die Versammlung bei ihrer Entscheidung über dieses Positionspapier bedenken, dass es zu keinem Zeitpunkt und in keiner Umfrage eine Bürger-Mehrheit für eine weitere Verschärfung des Nichtraucherschutzes in NRW gab. Manche Regierungspoitiker (und nach der NRW-Neuwahl jetzt sogar die ganze Regierung) scheinen hier jedoch per Gesetz die eigene Ideologie über den klaren Bürgerwillen stellen zu wollen.

Was ist denn der klare Bürgerwille? Umfragen sind kein klarer Bürgerwille, in Bayern hat 2010 ein Referendum eine Mehrheit von 61% zum Schutz vor Passivrauch ergeben. Eine aktuelle Umfrage des DKFZ zeigt nun erstmals sogar eine Zustimmung von 51% der Raucher zur rauchfreien Gastronomie (siehe http://www.dkfz.de/de/presse/pressemitteilungen/2012/dkfz-pm-12-36-Rauchfreie-Gaststaetten-in-Deutschland-2012-Erstmals-Mehrheit-der-Raucher-fuer-Rauchverbot.php.) Laut dieser Studie sind übrigens auch zwei Drittel der Wähler der Piraten für ein Rauchverbot in Gaststätten.

[1] http://www.freiheit-toleranz.de/getfile.php?id=539