NRW:Rhein-Erft-Kreis/Stammtisch/Bergheim/Presse 2009-11-08

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„Piratenpartei“ Rhein-Erft-Kreis: Besuch beim „Stammtisch“ in Bergheim

Bergheim – 07.11.09 – „Stammtisch“ der Piratenpartei in Bergheim - Im „Medium“, einem kleinen, aber chicen Steak-Restaurant, treffe ich auf fünf „Piraten“, die fest entschlossen sind, den Landtag von NRW in Düsseldorf am Mai 2010 zu „entern“, natürlich ganz legal mittels einem dicken Wählervotum, deutlich über 5 Prozent. Es sind Stephan (28), Student der Informatik, Luise (19), Schülerin, Frank (37), Geschäftsführer, Stephanie (28), BWL-Studentin und Hans Hubert (50), selbst. Unternehmensberater.

Diesen Optimismus spürt man während des ganzen Gesprächs, in dessen Verlauf man viel hört über die Ursachen der Entstehung, Organisation, Dynamik, Programmatik, politische Methoden und Repräsentanten dieser recht jungen „Piratenpartei“.

„Sogwirkung Europawahlen“

Einen ganz großen Schub, so hörte ich es von Frank (37), der wohl als der Aktivist bzw. als der „Spiritus Rector“ der Piraten in Bergheim angesehen werden kann, bekam die Parteisache nach den Europawahlen. Einerseits hätten die Piraten in Schweden die Hürden des Europarlaments mit respektablen sieben Prozent genommen und dann habe es, so wurde beigepflichtet, auch in Deutschland in Richtung der Bundestagswahlen einen richtigen Sog gegeben, abzulesen an rasant steigenden Mitgliederzahlen.

Warum der Name „Piraten?“

Warum der Name „Piratenpartei?“ Der Namensteil „Piraten“ ist ein Reflex auf das englische Wort „Piracy“, welches in vielen Ländern ein Synonym für den Vorgang des Raubkopierens ist bzw. generell die Verstöße gegen die Urheberrechtsgesetze umschreibt. Im Namen steckt also bereits ein Grundanliegen der Piraten, nämlich spezifische Freiheiten in der digitalen Welt frei von staatlichen Restriktionen, Repressionen und Kriminalisierung zu halten. Ein Beispiel: Die Piraten treten dafür ein, das generelle Recht auf Privatkopien nicht nur zu erhalten, sondern großzügig auszubauen. Ein Slogan auf einem offiziellen Wahlplakat verdeutlicht dies so: „Gute Ideen sind da, um kopiert zu werden!“ Ebenso gehört zum Selbstverständnis, dass Tauschbörsen legalisiert werden, da durch völlig einseitigen Druck der Musikindustrie bzw. durch deren Lobby, das Urheberrecht einseitig zu Gunsten der Verwertungsgesellschaften verschärft worden sei. Thematisch hierzu fordert die Piratenpartei auch eine radikale Reform des Patentrechts, dessen gültige Fassung und Praxis den „freien Zugang zu Wissen für alle“ behindere.

Wenn man sich stärker mit der Literatur über die Entstehung und die Folgen der digitalen Welt befasst, ebenso mit den Prognosen der Experten, dann ist man geneigt, sich der Meinung eines dieser Experten anzuschließen. Dieser hatte behauptet: „Die Erfindung des Internets ist die größte Revolution nach der Einführung der Demokratie!“

Internet: „Größte Revolution seit Erfindung der Demokratie!“

Wenn diese These stimmt, dann haben alle etablierten Parteien diese Revolution verschlafen oder ignorieren den alltäglichen und in raschem Tempo vor sich gehenden Wandel, verursacht durch die ständige Präsenz des Internets im Alltag, dessen Nutzung zur Verbreitung von Informationen dient – wozu natürlich auch die damit verbundenen Risiken zählen, wenn es um die Würde und die Freiheit des Individuums geht.

„Vorbild Schweden"

Die „Piratenpartiet“ wurde am 1.01.2006 gegründet und hat heute über 50.000 Mitglieder und mehr Abgeordnete als die schwedischen GRÜNEN im Stockholmer „Reichstag“. Ihre Jugendorganisation hat über 20.000 Mitglieder. Ihr größter Erfolg war der Einzug ins Europaparlament; bei den Wahlen in 2009 erhielt man auf Anhieb 7,1 Prozent der Stimmen. In dem Schriftsteller und Philosophen Lars Gustafsson hat sie einen prominenten Fürsprecher. In Deutschland mehren sich die Wahlerfolge Zug um Zug, zumal bei den stattgefunden Wahlen in 2009. Mit je einem Sitz sind die Piraten in den Stadträten von Aachen und Münster vertreten; bei den Bundestagswahlen am 27.09.2009 erhielten sie 2,0 Prozent. Es scheint einen Trend zu geben, dass in den universitären Zentren, wo Informatik eine wichtige Rolle spielt, die Affinität von Wählern zu den Piraten sehr ausgeprägt ist. In Ilmenau erhielt sie 6,1 und in Jena 4,8 Prozent der Zweitstimmen bei den Bundestagswahlen. Bundesweit hat die Partei knapp 12.000 Mitglieder, in NRW sind es exakt 1.973.

„Keine Ein-Themen-Partei auf Dauer!“

Es musste ja geradezu zu einer neuen politischen Bewegung deshalb kommen, deren herausragender Vorteil gegenüber allen Vorgängerbewegungen ist: Sie ist strikt international angelegt, wie das Internet eben. Auf die Frage, ob die Piraten, gegründet am 10. September 2006 in Berlin, nicht eine „Ein-Themen-Partei“ wäre, wurde gesagt, dass dies kein Dauerzustand bliebe, wolle man im politischen Wettbewerb bestehen, so bekräftigte Hans Hubert (50), von Beruf Unternehmensberater, aber die Erweiterung des politischen Programms benötige Zeit. „Natürlich muss es mehr sein“ als „freie Bildung“, „freier Zugang zur wissenschaftlichen Literatur“ – wurde gesagt, man werde sich langfristig verständigen müssen über Wirtschaft und Finanzen, Außen- und Sicherheitspolitik etc. Neu kreiert haben die Piraten einen politischen Stil des verbalen Umgangs miteinander; „sind dies Zeichen einer neuen politischen Kultur?“, so harmlos sie auf den ersten Blick aussehen. „Ahoi!“ und „Klarmachen zum ändern!“ scheinen dafür Synonyme zu sein; dazu zählen auch die „Crews“, die anderswo Arbeitskreise heißen. Auch die „Parteifarbe“ orange ist wohl nicht zufällig gewählt: Auch in der Ukraine war sie die Farbe der „Freiheit“.

„Wir in Bergheim…!“

Um all dieses umzusetzen, müsse erst einmal eine „Basis“ auf lokaler Ebene begründet und auf Langfristigkeit ausgerichtet werden. Wie muss man sich diesen Aufbau vorstellen? „Wir fangen mit Stammtischen auf lokaler Ebene an, wie hier in Bergheim, wo man sich regelmäßig trifft“ und "jeder Interessent willkommen ist“; man würde, so heißt es, „Neuen“ die Piraten erklären und politischen Gedankenaustausch pflegen. Wie weit ist man denn im Rhein-Erft-Kreis, fragte ich in die Runde? „Wir in Bergheim“, pflichtete jemand bei, sind das „Pilotprojekt“ im Kreis. Andere Stammtische würden, so die Hoffnung, bald folgen. Im Augenblick, so Frank, würde man sich auf die anstehende Landesmitgliederversammlung in Gelsenkirchen (7./8.11.2009) vorbereiten; es ginge auch darum, so fügte er hinzu, wie wir Bergheimer dort auftreten.

„Basisdemokratie oder Repräsentation?“

Überhaupt: Das politische Personal bei den Piraten – wie ist das Selbstverständnis von Repräsentation des politischen Willens oder anders gesagt, wie funktioniert die Personalauslese? Votiert die Mehrheit der Piraten für das Modell der „Basisdemokratie“ inklusive dem „imperativen Mandat“ oder dem Modell der etablierten Parteien, also Repräsentation durch Delegation? „Ja“ sagt Stephan, da ist noch nichts entschieden; beide Strömungen sind wohl auch bei den Piraten anzutreffen; aber man wolle schon Transparenz auf allen Ebenen, das gelte auch für die Kandidatinnen und Kandidaten, wenn es um die Aufstellung für die Listen für die Landtagswahlen in NRW in 2010 gehe, aber auch um Mandate in der Parteiorganisation.

Piraten: „Partei ohne Stars?“

Auf den Einwand, dass jede Partei in der Mediengesellschaft „Zugpferde mit Charisma“ bzw. „Stars“ benötigte, um die politische Programmatik zu transportieren und diese aber politisch schwer „zu kontrollieren“ seien, hieß es eher abwartend, „das muss sich alles noch entwickeln, dafür ist die Zeit zu früh!“ Richtig sei, man müsse den „größten gemeinsamen politischen Nenner“ herausfiltern, den „Konsens suchen“. Auf den Hinweis, dass in der Geschichte neu gegründete Parteien immer viele „Paradiesvögel und Karrieristen“ angezogen habe, was zu vielen innerparteilichen Konflikten geführt habe (GRÜNE, Stattpartei, „Schill-Partei“ etc.) – wurde geltend gemacht, dass man bei den Piraten „Sachverstand“ benötigen müsse, um effizient wirken zu können.

Piraten: „Gehen sie den Weg der GRÜNEN?“

Natürlich wird man an die Gründungphase der GRÜNEN erinnert, wo es mehr als zwanzig Jahre gebraucht hat, bis das ehemalige „Sprachrohr“ der „Neuen sozialen Bewegungen“ (Anti-Atomkraft, Frauen, Lesben und Schwulen, Natur- und Umweltschutz etc.) selbst zu einer „etablierten“ Partei geworden ist. Experten begründen diese Entwicklung so: „Weil die Befürworter der „Basisdemokratie“ diese mit einer „Basisbürokratie“ verwechselt hatten, konnten im Schatten dieses untergehenden „Fundamentalismus“ politische Karrieristen und Opportunisten gescheiterter sozialistischer und kommunistischer Sekten, die dann nach und nach auch bei den „Realos“ auftauchten, die politische Kultur der „GRÜNEN“ radikal ins Gegenteil verkehren: Vom politischen Mandat auf Zeit, von einer radikalen Transparenz der politischen Entscheidung, so sagen es Kritiker, ist nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Das Spitzenpersonal in der Partei und in den Parlamenten – bis „runter“ zu den Kommunen sind länger in ihren Ämtern als manch anderer aus den etablierten Parteien, so die Bebachtung von Experten. Deshalb, so sagen es auch Wahlforscher, laufen die „Jungen“ – und das seien nicht nur die „digital natives“ - zu den Piraten, weil sie dort ihre Lebenswelt angesprochen und ihre politischen Interessen artikuliert sehen.

Typische Merkmale eines Piraten?

Ist das typische Mitglied der Piraten „jung, akademisch gebildet, internetaffin?“ – „Nein“ hieß es spontan einstimmig in der Runde: „Das sehen Sie ja an uns!“, wir kommen aus allen Schichten und Berufen; es sind nicht nur junge Leute (Durchschnittsalter: 31 Jahre); das gibt uns ein „breites Fundament.“ – war das Echo der Piraten am Tisch.

"Erste Bewährungsprobe: Landtagswahlen NRW"

Fazit: Da wächst etwas Spannendes heran; es scheint, dass der politische Meinungs- und Programmpluralismus in diesem Lande noch größer und bunter geworden ist. Die Piraten wären nach den GRÜNEN diejenigen, denen quasi aus dem Stand der politische Wahlerfolg gelingen könnte. Vergleicht man die Wahlergebnisse beider Parteien in ihrer Anfangszeit, haben die Piraten besser abgeschnitten. Nun steht den Piraten im Mai 2010 in NRW die erste große Bewährungsprobe in Sachen Landtagswahlen bevor.

Erfolgsprämissen: „Neue Themen und neue Personen“

Zwei Prämissen haben die Piraten für einen politischen Erfolg erfüllt, folgt man prominenten Parteienforscher, deren These lautet: "Gelingt es, neue, von der politischen Konkurrenz vernachlässigte Themen und neue Personen für eine neue Politik zu kreieren, ist die Chance, politische Zustimmung bzw. Gefolgschaft bei Wahlen zu erhalten, sehr groß!“ – Es scheint, dass die Piraten, sollten sie sich in den Seilstricken der Organisations- und Personaldebatten nicht verfangen und den „Umweg“ der GRÜNEN vermeiden, im politischen Wettbewerb nicht chancenlos sind. –

Infos:

Piratenpartei.de - Der Stammtisch in Bergheim trifft sich jeden Montag, 19.00 Uhr im Restaurant Medium, Südweststr. 15, 50126 Bergheim. Kontakt: Frank: fs@vxs.de - Foto: "Piraten": Stephan, Luise, Frank, Stephanie, Hans Hubert (v.l.) - Text/Foto: Dr. Ernst Hoplitschek

Quelle: Onlinezeitung Rheinerft, Tagesthemen, 08.11.2009