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Diskussion

Beteiligungs- und Zustimmungsquoren

Die in der Begründung zur Initiative angeführten Bedenken gegen Quoren bei der Volksabstimmung treffen allein für das Beteiligungsquorum zu und können da auch genau den gegenteiligen Effekt annehmen: Da durch ein Beteiligungsquorum dazu eingeladen wird, bei Ablehnung einer Abstimmungsfrage an der Abstimmung nicht teilzunehmen, kann sich ein Resultat ergeben, bei dem die Nein-Stimmen-Zahl nicht dem Willen der Abstimmungsberechtigten entspricht, aber das Beteiligungsquorum knapp erreicht wird. Dadurch haben die Zustimmer eine Chance die Abstimmung zu gewinnen, obwohl sie nicht über eine Mehrheit verfügen.

Für das Zustimmungsquorum gilt das nicht. Das Zustimmungsquorum ist ein gutes Kriterium, die Validität einer Volksabstimmung sicherzustellen, wenn die Abstimmung nicht in Kombination mit einer allgemeinen Wahl abgehalten wird. Da nur diejenigen für das Quorum berücksichtigt werden, die der Abstimmungsfrage zustimmen, ist das Quorum allein von der Mobilisierung der Ja-Sager abhängig. Damit können taktische Überlegungen eines Abstimmungsboykotts von vornherein entfallen. Damit können auch die Nein-Sager ohne Bedenken an der Volksabstimmung teilnehmen, da ihr Votum für das Quorum ohne Belang ist, aber ihre Stimme bei der Berchnung der Mehrheit voll wirksam wird. --etz 01:57, 20. Okt. 2011 (CEST)

Die Aussagen, dass ein Zustimmungsquorum kein taktisches Abstimmverhalten unterstützen würde und insbesondere nicht zu einem bewussten Fernbleiben von der Volksabstimmung beitragen könnte, sind so nicht richtig. Denn sie setzen ein relativ statisches Bild vom Meinungsbildungsprozess voraus und gehen von der Annahme aus, dass ein Zustimmungsquorum praktisch nur am Tag der Abstimmung wirksam wird. Tatsächlich aber entfaltet ein Zustimmungsquorum bereits lange vor dem Abstimmungstag eine demokratieschädliche Wirkung. Zustimmungsquoren beschränken ebenso wie Beteiligungsquoren die politische Auseinandersetzung und verzerren das Ergebnis eines Volksentscheids, im schlimmsten Fall konterkarieren sie das Meinungsbild in der Bevölkerung komplett. Sie sind deshalb beide keine geeigneten Mittel, um einem Volksentscheid Legitimation zu verschaffen.

Ein Beispiel: Ein landesweiter Volksentscheid steht an, es gilt ein Zustimmungsquorum von 25%. Laut einer Meinungsumfrage, veröffentlicht wenige Wochen vor der Abstimmung, beabsichtigen 19% der Stimmberechtigten mit Ja zu stimmen, 26% der Stimmberechtigten mit Nein, 55% sind unentschlossen oder wollen nicht am Volksentscheid teilnehmen. Umgerechnet entfielen damit 43% der abgegebenen Stimmen auf das Ja-Lager, 57% auf das Nein-Lager – ein komfortabler 14%-Vorsprung. Demoskopie birgt dabei zwar stets eine gewisse Fehlerquote in sich, die in Betracht zu ziehen ist. Doch selbst, wenn sich das zu Gunsten des Ja-Lagers im Umfang von ca. 2% bewegte (wobei es nachweisbar auch schon weitaus größere Abweichungen gab), hätten die Gegner der Vorlage bei einer solchen Ausgangslage wenig Anlass, ernsthaft aktiv zu werden: Die Befürworter am Zustimmungsquorum scheitern zu lassen, ist die billigste und bequemste Methode, den gegenwärtigen Status quo zu erhalten. Hingegen würde ein Abstimmungskampf unter Umständen mehrere Millionen Euro kosten. Außerdem würde das Nein-Lager durch Werbung und Medienvorstöße viele der bislang indifferenten Bürger überhaupt erst auf den Volksentscheid aufmerksam machen und deren Interesse am Thema wecken – möglicherweise zu Gunsten des politischen Kontrahenten. Da ihm dies nur zum Nachteil gereichen kann, verweigert sich das Nein-Lager also einem öffentlichen Diskurs weitgehend. Die Folge: Die Befürworter wären in den Medien deutlich präsenter und es mangelte dem Diskurs an der Bewusstmachung von Gegenargumenten.

Genau dieser einseitige Meinungsbildungsprozess hätte schwerwiegende Folgen: Einerseits könnte das Ja-Lager durch seine Dominanz im öffentlichen Raum in den letzten Wochen bis zum Volksentscheid noch ein gewisses Quantum an Stimmberechtigten mobilisieren und am Ende das 25%-Zustimmungsquorum doch noch überspringen. Es könnte letztlich sogar mehr abgegebene Stimmen auf sich vereinen als das Nein-Lager, da letzteres es versäumt hätte, rechtzeitig mehr Bürger von den Gegengründen zu überzeugen und seine Anhänger zu mobilisieren, von denen viele zu lange davon ausgegangen sein könnten, dass die Ja-Seite nicht nur weniger Anhänger habe, sondern eben auch das Zustimmungsquorum nicht schaffen würde. So mancher Gegner würde dann ganz bewusst nicht zum Volksentscheid gegangen sein – aus Kalkül und aus Bequemlichkeit. Und das, obwohl in der Gesamtheit der Bürger womöglich immer noch die Gegner überwiegen!

Am Ende verlöre nicht nur die Nein-Seite, sondern auch die Demokratie: Die Minderheit der Befürworter setzte sich mit ihren Vorstellungen durch, die Mehrheit der Bürger fände sich nicht im Gesetz repräsentiert. Das beschlossene Gesetz entspräche nicht dem tatsächlichen Willen der Bevölkerung, weil viele Gegner sich nicht aufgerafft hätten – u.a. in der Annahme, dass die Befürworter am Zustimmungsquorum sehr wahrscheinlich scheitern – wie fast immer bei einem 25%-Zustimmungsquorum bei Volksentscheiden, die nicht zusammen mit Wahlen stattfinden. In einer Demokratie soll ein Gesetz aber dem Willen der Bevölkerungsmehrheit entsprechen und das Abstimmungsergebnis soll die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse widerspiegeln – auch um einen belastbaren Grund dafür zu haben, insbesondere knapp unterlegene Minderheiten bei der weiteren Politikgestaltung stärker einbeziehen zu können und nach Kompromissen zu suchen, was Teil unserer demokratischen Kultur ist.

Ein nach vorstehendem Szenario beschlossenes Gesetz könnte darüber hinaus qualitativ minderwertig sein. Denn viele potenzielle Verbesserungsvorschläge hätten wegen des fehlenden Auseinandersetzungsprozesses nicht mehr Eingang in den Abstimmungstext gefunden. Viele Gegner wären auch nie zu der Einsicht gelangt, dass eventuell ein dritter Weg in Form einer konkurrierenden Vorlage des Parlaments die optimale Lösung gewesen wäre und kein striktes Nein. Die Potenziale in der Bevölkerung für diese verschiedenen Entscheidungsoptionen wären nie ausgeschöpft, geschweige denn ergründet worden.

Ein anderes Szenario: Es stimmen mit Abstand mehr Volksentscheidsteilnehmer mit „Ja“ als mit „Nein“, aber das Zustimmungsquorum wird denkbar knapp verfehlt und der Volksentscheid ist ungültig. Die Befürworter würden nun durchaus begründet behaupten dürfen, dass das Parlament in der betreffenden Sachfrage gegen das Volk agiert. Denn dass die regierenden Volksvertreter die Mehrheit der Bürger in diesem Punkt weiterhin repräsentieren, diesen Beweis sind sie schuldig geblieben. Der Volksentscheid verliert damit eine überaus wichtige Funktion, die auch Wahlen zukommt, nämlich die Befriedungsfunktion. Die Machtfrage muss abschließend geklärt sein, das Ergebnis allseits akzeptiert sein. Andernfalls würden die Unterlegenen genug Anlass haben, unverzüglich eine erneute Initiative zu starten, um das Abstimmungsergebnis zu revidieren und sich solange in extremo in zivilem Ungehorsam zu üben. Planbarkeit, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit stehen damit zur Disposition.

Der Willensbildungsprozess ist im Fluss, Mehrheiten reifen langsam. Meinungen werden überdacht und können sich ändern. Dieser wunderbare Wesenszug der Demokratie darf nicht durch Taktieren, das wie beschrieben sehr wohl auch bei Zustimmungsquoren möglich ist, behindert werden. Zustimmungsquoren sind diskurs- und demokratieschädlich. Sie beschränken den freien Wettbewerb der Ideen. Es darf aber keinen Grund für Gegner einer Abstimmungsvorlage geben, sich der politischen Auseinandersetzung zu entziehen. Im Gegenteil muss alles dafür getan werden, dass die politischen Kräfte versuchen, aktiv Mehrheiten zu überzeugen. Und das Verfahren muss so gestaltet sein, dass alle Seiten gehört werden und am Ende auch ein für sie ungünstiges Ergebnis respektieren. Zustimmungsquoren sind also ebenso wie Beteiligungsquoren für die Gestaltung der Volksgesetzgebung ungeeignet und deshalb abzulehnen.

Weitere Ausführungen mit empirischen Belegen:

Beiden Formen, Zustimmungs- und Beteiligungsquoren, haften diverse negative Begleiterscheinungen an. Da ist, wie schon erläutert, die Verhinderung des Mehrheitswillens der Aktivbürger, d.h. derer, die ihre Stimme abgeben - und nur diese sind schließlich auch die einzig relevante Bezugsgröße bei Wahlen, bei denen ebenfalls keine Abstimmungsquoren gelten.

Der Einwand, dass die Befürworter der Abstimmungsvorlage zurecht an einem Zustimmungsquorum scheitern würden, weil sie eben keine "Mehrheit" mobilisiert hätten, führt auf dünnes Eis. Denn zum einen entscheidet sich erst an der Urne mit Gewissheit, wie sich die Mehrheitsverhältnisse tatsächlich gestalten. Viele Menschen entscheiden sich sehr kurzfristig, Meinungsumfragen können irren und sollten vor allem die Gegner einer Vorlage nicht voreilig in falscher Sicherheit wiegen und sie zur Abstinenz anstiften. Zum anderen geht diese Argumentation an der politischen Wirklichkeit und der real erzielbaren Wahrnehmung des Abstimmungsrechts durch die Bürger vorbei:

Die Beteiligung bei Volksabstimmungen liegt in Deutschland im Durchschnitt bei 40 Prozent. Das ist ein hoher Wert, wenn man bedenkt, dass jeweils nur eine einzige Frage entschieden wird, die nicht jeden gleich stark betrifft. Wenn überhaupt, dann müssten Quoren also eher für Wahlen eingeführt werden, nicht für Abstimmungen. Denn die Entscheidung über eine einzelne Sachfrage ist von geringerem Gewicht als eine Wahlentscheidung, die ein ganzes Maßnahmenpaket der künftigen Regierung festlegt.

Weiter zur Empirie: In Deutschland ist z.B. bei Änderungen von Landesverfassungen ein Zustimmungsquorum von 50% aller Stimmberechtigten weit verbreitet. Doch noch niemals ist ein solches Quorum in diesem Land übersprungen worden. Auch ein Zustimmungsquorum von „nur“ 25% aller Stimmberechtigten wurde in der Geschichte der Bundesrepublik bei Volksabstimmungen auf Landesebene erst ein einziges Mal „geknackt“, wenn der Volksentscheid nicht mit einer Wahl zusammen stattfand. Mehr als die Hälfte der Volksentscheide, für die ein Zustimmungsquorum gilt, scheitert daran, der Großteil, obwohl eine Ja-Mehrheit in der Abstimmung erreicht wurde. Das Quorum hat so verhindert, dass die Mehrheitsmeinung der Abstimmenden umgesetzt wird. Wer also funktionierende Volksentscheide will und den Bürgern nicht nur ein Recht auf dem Papier ohne tatsächliche Einflussmöglichkeit verschaffen möchte, sollte sich gegen Abstimmungsquoren aussprechen.

Quoren bewirken darüber hinaus oft, dass Befürworter des Status quo, wie schon erläutert, den öffentlichen Diskurs verweigern, um die öffentliche Aufmerksamkeit, und damit die Beteiligung am Entscheid, niedrig zu halten, so dass das Quorum verfehlt wird. Dies schadet auf der einen Seite der Qualität der öffentlichen Diskussion und damit auch der Qualität der politischen Entscheidungen. Je mehr Volksentscheide jedoch an Quoren scheitern, desto weniger sind Bürger auf der anderen Seite bereit, sich an weiteren Abstimmungen zu beteiligen, ja überhaupt noch Zeit und Mühe für Unterschriftensammlungen und Überzeugungsgarbeit im Vorfeld von Volksentscheiden zu investieren: ein Teufelskreis.

Abschließendes Fazit: Zustimmungsquoren schaden der Demokratie genauso wie Beteiligungsquoren und sind deshalb abzulehnen.

Siehe hierzu die Ausführungen von Prof. Reiner Eichenberger (Universität Fribourg) in: [1]--Jay Kay 16:02, 21. Okt. 2011 (CEST), ergänzt durch: --Jay Kay 22:36, 22. Okt. 2011 (CEST)

Hab Dank für die sehr ausführliche Antwort. Ohne auf alle Aspekte jetzt bereits eingehen zu können, möchte ich aber wenigstens ein paar Anmerkungen schon machen.
Ich halte ein Quorum schon aus dem Grund für erforderlich, dass ich verhindern möchte, dass sich bei geringster Beteiligung quasi ein Zufallsergebnis einstellt. Wir können uns schnell darüber verständigen, dass die geltenden Quoren zu hoch angesetzt sind. Aber ich möchte schon erreichen, dass sich das Instrument der Volksabstimmung nicht durch unbedeutende Teilnahmezahlen entwertet. Der Versuch, durch den Verzicht auf ein Quorum Druck auszuüben, dass sich Bürger zur Teilnahme genötigt fühlen. Bei drei Entscheidungsebenen (Bund, Land und Kommune) kann das selbst bei einer Bündelung von Volks-/Bürgerentscheiden dazu führen, dass bei entsprechendem Engagement in Volks- und Bürgerbegehren zugespitzt formuliert wöchentlich ein Urnengang für die Direkte Demokratie erforderlich werden könnte. Das scheint mir unzumutbar. --etz 11:48, 24. Okt. 2011 (CEST)

Es gibt empirisch keinen Beleg dafür, dass es bei den vorgeschlagenen Unterschriftenquoren zu einer unüberschaubaren Menge an Abstimmungsvorlagen käme, die eine geordnete Auseinandersetzung unmöglich machte. Im Gegenteil: Auch in der Schweiz gibt es drei politische Ebenen: Gemeinde, Kanton, Bund - alle mit direktdemokratischen Instrumenten ausgestattet. Dass dort "wöchentlich" abgestimmt wird, Bürger sich durch das Prinzip "Mehrheit entscheidet" unter "Druck" gesetzt fühlen und Kritiker die Volksgesetzgebung deshalb als "unzumutbar" geißeln, habe ich noch nicht gehört. Die Anzahl der zur Abstimmung stehenden Vorlagen hat mit Zustimmungs- oder Beteiligungsquoren (die beim Volksentscheid, nicht beim Volksbegehren gelten) nichts zu tun (mir scheint hier im vorstehenden Absatz eine Verquickung mit sogenannten Unterschriftenquoren bei Volksbegehren vorzuliegen). --Jay Kay 18:00, 27. Okt. 2011 (CEST)