BE:Satzung/Änderung/Antrag/2010-02-03 Liquid Democracy zur LMV 2010.1
Inhaltsverzeichnis
- 1 Vorbemerkung
- 2 Satzungsänderungsantrag Liquid Democracy
- 3 Diskussion
- 4 Erläuterungen
Vorbemerkung
Dieser Satzungsänderungsantrag zur Aufnahme von Liquid Democracy wurde von Mitgliedern des Squad Parteistruktur und Satzungsfragen (Axel, Christopher, Claudia und Pavel) erarbeitet. Die Mindestanforderungen wurden von Mitgliedern des Squad Liquid Democracy (Andreas, Axel, Björn, Jan, Holger) erarbeitet.
Satzungsänderungsantrag Liquid Democracy
§ 11 Liquid Democracy
(1) Die Piratenpartei Deutschland Berlin nutzt zur Willensbildung über das Internet eine geeignete Software. Diese muss die "Anforderungen für den Liquid Democracy Systembetrieb" erfüllen, welche vom Vorstand beschlossen werden.
Die Mindestanforderungen sind:
- a) Jedes Mitglied muss die Möglichkeit haben, Anträge im System zu stellen. Zulassungsquoren und Antragskontingente sind zulässig, müssen jedoch für alle Mitglieder gleich sein.
- b) Das System muss ohne Moderatoren auskommen.
- c) In das System eingebrachte Anträge dürfen nicht gegen den Willen des Antragstellers von anderen Mitgliedern verändert oder gelöscht werden können.
- d) Jedem Mitglied muss es innerhalb eines bestimmten Zeitraums möglich sein, Alternativanträge einzubringen.
- e) Das eingesetzte Abstimmungsverfahren darf Anträge, zu denen es ähnliche Alternativanträge gibt, nicht prinzipbedingt bevorzugen oder benachteiligen. Mitgliedern muss es möglich sein, mehreren konkurrierenden Anträgen gleichzeitig zuzustimmen. Der Einsatz eines Präferenzwahlverfahrens ist hierbei zulässig.
- f) Es muss möglich sein, die eigene Stimme mindestens themenbereichsbezogen durch Delegation an ein anderes Mitglied zu übertragen. Diese Delegationen müssen jederzeit widerrufbar sein und übertragenes Stimmgewicht muss weiter übertragen werden können. Selbstgenutztes Stimmgewicht darf nicht weiter übertragen werden, wodurch ggf. vorhandene Zyklen aufgelöst werden. Das Nutzen der eigenen Stimme einschließlich übertragenem Stimmgewicht muss jederzeit möglich sein, ohne dass hierbei Delegationsentscheidungen auf übergeordneter Ebene (z. B. themenbereichsbezogen) aufgehoben werden müssen.
(2) Der Vorstand stellt den dauerhaften und ordnungsgemäßen Betrieb des Systems sicher.
(3) Jedem Mitglied ist Einsicht in den abstimmungsrelevanten Datenbestand des Systems zu gewähren. Während einer Abstimmung darf der Zugriff auf die jeweiligen Abstimmdaten anderer Mitglieder vorübergehend gesperrt werden.
(4) Die Organe sind gehalten, das Liquid Democracy System zur Einholung von Meinungsbildern zur Grundlage ihrer Beschlüsse zu nutzen. Das Schiedsgericht ist davon ausgenommen.
(5) Die Organe der Partei sind angehalten, die Anträge, die im Liquid Democracy System positiv beschieden wurden, vorrangig zu behandeln.
(6) Teilnahmeberechtigt ist jeder Pirat, der nach der Satzung stimmberechtigt ist. Jeder Pirat erhält genau einen persönlichen Zugang, der nur von ihm genutzt werden darf.
(7) Alle Regelungen des § 11 "Liquid Democracy" gelten für jede Gebietsversammlung gemäß § 9 dieser Satzung sowie für jeden Bezirksverband einschließlich seiner etwaigen Untergliederungen gemäß § 10 dieser Satzung entsprechend.
Diskussion
Die Autoren/Initiatoren dieses Satzungsänderungsantrages bitten um Anregungen und sachliche Kritik hier auf Liquid Feedback.
Erläuterungen
Erläuterungen zu "Anforderungen für den Liquid Democracy Systembetrieb" und zu den "Mindestanforderungen" allgemein
Die Mindestanforderungen sind das Kernstück des Antrages, denn die Mindestanforderungen beschreiben, was allgemein unter Liquid Democracy oder Proxyvoting verstanden wird. Insbesondere wird der allgemeine Prozess der Antragsstellung einschließlich Stimmendelegation erklärt. Diese Prozessbeschreibung ist zwingend, weil sonst Liquid Democracy nicht beschrieben ist. Dabei wurde auf eine generische Formulierung geachtet, so dass auch andere Software als LiquidFeedback zum Einsatz kommen kann, die diese Liquid-Democracy-Mindestanforderungen erfüllt.
Darüber hinaus gibt es Anforderungen für den konkreten Systembetrieb. Diese Anforderungen enthalten z. B. Regeln für den Datenschutz, Sicherheitsmaßnahmen für die Server, Auswahl und Verpflichtungen der Administratoren, Verfahren bei auftretenden Problemen und vieles andere mehr. Der konkrete Systembetrieb unterliegt u. a. wegen schnelllebiger technischer Weiterentwicklungen ständiger Veränderungen, weshalb diese Anforderungen unmöglich in die Satzung aufgenommen werden können, sondern sinnvoller Weise jeweils vom Vorstand neu gefasst und beschlossen werden.
Erläuterung zu den Zielen der Mindestanforderungen
zu a) Alle Mitglieder haben aus Sicht des LD-Systems unabhängig von Fuktionen, Ämtern, Mandaten oder Verdiensten die gleichen Rechte.
zu b) Die Mitglieder nutzen das System gleichberechtigt, ohne dass eine herausgehobene Person erforderlich ist, die inhaltlich Einfluß ausübt. Eingriffe aufgrund von Vorstandsbeschlüssen wie das Entfernen strafrechtlich relevanter Inhalte sind von außen in des System hineinwirkende Ereignisse und haben nichts mit Moderation zu tun. Den Administratoren kommt hierbei lediglich eine ausführende Rolle zu.
zu c und d) Beides zusammen genommen soll es jedem ermöglichen seine eigenen Gedanken darzulegen, ohne die Arbeit eines anderen zu zerstören.
zu e) Stimmen sollen sich bei vielen ähnlichen Ideen nicht zwangsläufig aufteilen, damit man frei von taktischen Überlegungen eine inhaltlich begründete Entscheidung treffen kann (ich werde nicht verleitet, nur deshalb Y zu wählen, weil ich denke, dass Y bessere Chancen hat als mein Favorit X").
zu f) Dies entspricht dem Grundgedanken der LiquidDemocracy: jeder kann (mindestens je Themenbereich) für sich selbst entscheiden, wo er sich im Kontinuum zwischen repäsentativer und direkter Demokratie ansiedelt. Die Weiterübertragbarkeit führt zu einer Machtakkumulation verhindernden Dynamik: eine große Anzahl gültiger Delegationen kann sich aufgrund weniger Einzelentscheidungen sehr schnell verringern. Würden Delegationen nur über eine Ebene erfolgen, gäbe dies den Delegationsempfängern viel mehr Macht und Empfänger von Delegationen könnten nicht guten Gewissens selbst delegieren, da Stimmen verfallen würden. Die Weiterübertragbarkeit ermöglicht es, die eigene Stimme an Mitglieder zu delegieren, denen man zutraut zu entscheiden, wer der eigentliche Experte in einer Frage ist. Als Empfänger von Delegationen kann ich auf jemanden weiter delegieren, der die jeweilige Entscheidung aus meiner Sicht fundierter treffen kann. Es soll aber möglich sein, sich jederzeit selbst einzumischen. Hierfür ist die Regel zur Nichtweiterübertragung selbstgenutzten Stimmgewichts zwingend erforderlich.
Erläuterungen zu § 11 (7)
Die Bezugnahme betrifft Paragraf 9 und 10 dieses Satzungsentwurfs: https://lqpp.de/be/initiative/show/256.html
Erläuterungen zu diversen Anregungen
zu: "erst 1 - 2 Jahre warten, erst dann in die Satzung schreiben"
Wir teilen diese Auffassung nicht. Im Satzungsänderungsantrag geht es um Liquid Democracy allgemein, nicht um den Test irgendwelcher Software. Natürlich wirft der Satzungsänderungsantrag die Frage auf, ob die PP Berlin prinzipiell Liquid Democracy möchte oder nicht. Die Initiatoren waren nach vielen Gesprächen auch gerade mit den Gründungsmitgliedern der Partei der Auffassung, dass es ein Herzensanliegen der Gründer war, neue innovative Wege zur Meinungsbildung zu gehen. Liquid Democracy wurde von ihnen in verschiedenen Konzepten weiterentwickelt, konnte aber mangels geeigneter Software nicht umgesetzt werden. Nachdem diese nun in einem großartigen Projekt entwickelt wurde, kann Liquid Democracy zur Anwendung kommen. Es ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt sich zur Liquid Democracy in der Piratenpartei zu bekennen und dieses basisdemokratische Konzept sichtbar in diesem Land politisch zu konstitutionieren! Aus der Geschichte wissen wir: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Die einzigartige Chance, die innerparteiliche Demokratie nachhaltig zu verändern darf nicht vertan werden. Sollten sich erst einmal Bezirksverbände ohne Liquid Democracy gegründet und etabliert haben, wird durch einhergehende Machtstrukturen Liquid Democracy wahrscheinlich nicht mehr eingeführt werden können. Wir halten den jetzigen Zeitpunkt deshalb für äußerst günstig und werben für die Unterstützung unseres Satzungsänderungsantrages! Die Piratenpartei braucht nicht irgendwann Liquid Democracy, sondern jetzt!
zu: "Organe nicht formal an LD-Beschlüsse gebunden"
Diese Frage verstehen wir gut, hatten wir doch einmal ursprünglich auch den Wunsch, dass sich Organe der Partei unbedingt an die LD-Beschlüsse zu halten hätten. Nach Rücksprache mit Juristen mussten wir aber einsehen, dass es aus mehreren Gründen nicht möglich ist. Hierzu zählen vornehmlich:
a) Parteiengesetz
Das Parteiengesetz schreibt den status quo fest. Innovationen, insbesondere technischer Natur, kommen darin nicht vor. Die Beteiligung ist über persönliche Anwesenheit und Mitwirkung über verschiedenen Ebenen (von Bundesebene bis hinunter zur Ortsgruppe) vorgesehen. Eine (virtuelle) Beteiligung über ein technisches System, so wie es unser Satzungsänderungsantrag vorsieht, kommt im Parteiengesetz also nicht vor und könnte womöglich clevere Winkeladvokaten dazu veranlassen, gegen die Partei zu klagen (wenn sie selbst Mitglied sind) oder dazu motivieren, Bestrebungen anstellen, die verbieten zu lassen, weil sie nicht ausreichende Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten bietet. Dies ist unserer Meinung nach auf alle Fälle zu vermeiden, weshalb wir die zugegeben, vorsichtige Formulierung "Organe sind angehalten" gewählt haben. Leider sind wir nach einhelliger der zu Rate gezogenen Juristen damit auch schon am rechtlichen Limit, was derzeit möglich ist.
- Hier noch eine Konkretisierung: Das Parteiengesetz schreibt in § 15 Abs 3 vor: "Bei Wahlen und Abstimmungen ist eine Bindung an Beschlüsse anderer Organe unzulässig." - Selbst wenn die "Online-Mitgliederversammlung" ein Organ der Partei wäre, wäre der Vorstand bei Abstimmungen nicht an die Ergebnisse gebunden, und nach §15 Abs 1 fassen die Organe, zu denen der Vorstand gehört, ihre Beschlüsse mit Mehrheit. Jeder Vorstandsbeschluss ist also eine Abstimmung. Selbst das höchste Organ, die Landesmitgliederversammlung, kann dem Vorstand keine Beschlüsse vorschreiben. Sie kann allenfalls selbst Beschlüsse fassen. Machen wir nun den "Online-Parteitag" zu einem Organ der Partei, muss es wegen §15 Abs. 2 die Möglichkeit geheimer Abstimmungen geben. Die Durchführung geheimer Online-Abstimmungen wirft aber so viele Probleme auf, das sich dadurch der Einsatz eines solchen Systems auf unbestimmte Zeit verzögern würde.
b) technische Schwierigkeiten
Es gehört zum Risiko des Systembetriebs, dass es auch einmal ausfällt, womöglich für längere Zeit. Wären die Organe verpflichtet, LD-Beschlüsse zu befolgen, also auch für Entscheidungen zwingend einzuholen, könnten sie das in diesem Falle nicht und wären handlungsunfähig bzw. es müssten komplizierte Ausnahmeregelungen geschaffen werden. Um das zu vermeiden, bietet die derzeitige Formulierung ausreichend Handlungsspielraum, ohne gegen die Satzung zu verstoßen.
c) rechtswidrige oder sich widersprechende LD-Beschlüsse
Ein wirklich demokratisches System kann unseres Erachtens nur ohne Moderation wirklich demokratisch und gerecht sein. Deshalb ergibt sich aber das Problem, dass rechtswidrige oder sich widersprechende Beschlüsse gefasst werden könnten. Daran können und dürfen die Organe nicht zwingend gebunden sein. Die derzeitige Formulierung bietet auch hier ausreichend Handlungsspielraum, ohne gegen die Satzung zu verstoßen.